Zusammenspiel der Realiatete als eines der Hauptprinzipien des Sujetaufbaus im Roman Stiller von Max Frisch
aussondern.
"Von Julika getraeumt- wieder fast das gleiche: sie sitzt in einem
Boulevard-Cafe unter vielen Leuten und versucht, mir zu schreiben, den
Bleistift in den Lippen wie ein Schulmaedchen in Not, ich will auf sie
zugehen, bin aber von drei fremden (deutschen) Soldaten verhaftet, weiss,
dass Julika mich verraten hat. Unsere Blicke treffen sich." (Frisch
1992:333)
Diese Textkonstruktion, naehmlich "Erzaehlung in der Erzaehlung", oder
mit anderen Worten "Text im Text", spitzt in erster Linie das Moment des
Spieles im Text zu. Gleichzeitig wird die Rolle der Textgrenzen
unterstrichen, sowohl der aeusseren, die den Text von dem 'Nicht-Text'
trennen, als auch der inneren, die Textteile mit verschiedenen Coden
aussondern.
Das Zusammenspiel verschiedener Textschichten kommt nicht nur dadurch
zum Ausdruck, weil die Elemente des 'Nicht- Textes' in einer Perspektive in
den Text eingeschlossen, in einer anderen aus dem Text ausgeschlossen sind,
sondern auch dadurch, dass in beiden Faellen ihr Relativitaetsgrad sich von
dem des Haupttextes unterscheidet.
Der Zeichencharakter von allem Kuenstlerischen ist dual schon seiner
Natur nach. Einerseits fungiert der Text als eines der Elemente der realen
Welt, das sein eigenes Dasein hat. Andererseits aber ist der Text die
Kreatur des Autors. Gerade in dieser Dualitaet entsteht "das Zusammenspiel
auf dem semantischen Feld 'Wirklichkeit- Fiktion' " (Lotman 1992: 72).
Nach W. P. Rudnev ist die Konstruktion "Text im Text" nicht nur
literarische, sondern auch kuenstlerische Erscheinung. Als Beispiel fuehrt
der Wissenschaftler die Einfuehrung von Dokumentarbildern in einen Film,
oder den mehrschichtigen Sujetaufbau an.
J. M. Levin zum Beispiel untersucht solche literarischen Griffe, wie
Vermischung von Traum und Wirklichkeit, Motive der Doppelgaenger, mit deren
Hilfe der Autor einen mehrschichtigen Sujetaufbau erzielt. In diesen
Konstruktionen bildet das Fabulieren die Oberflaeche und dient der
Entstehung des Haupthemas. Das Haupthema basiert vorwiegend auf formellen
Elementen- auf den Strukturen wie "Text im Text" mit den gebrochenen
Kompositionsrahmen, wo die Grenzen zwischen Realitaeten verzerrt sind.
(vgl. Levin 1981: 55-58)
Indem Autor seine Figuren etwas traeumen, erfinden, luegen oder
erzaehlen laesst, wird der Prozess des Erfindens selbst expliziert. Lotman
(1981) hat diese "Kaestchenkonstruktion" eines Textes mit dem Spiegelmotiv
in der Malerei verglichen.
"Fuer die Bezeichnung dieses Textphaenomens scheint der Terminus
"virtuell" geeignet zu sein. […] Die Wirklichkeit, die sich im Bewusstsein
der Figuren eines literarischen Textes konstituiert, kann als "virtuelle
Wirklichkeit" bezeichnet werden". (?elikova 1998: 224)
Virtuelle Fragmente im Text helfen oft das Verborgene ans Licht zu
bringen, das heisst, sie sind Schluessel zur Intention des Autors. 'Das
Zusammenspiel der Realitaeten' im Rahmen einer fiktionalen Welt ist einer
der verbreitesten Griffe der modernen Literatur. Dieses Zusammenspiel
basiert auf den Wechselbeziehungen zwischen der fiktionalen und virtuellen
Wirklichkeit. Diese zwei Welten koennen sowohl voneinander abhaengig sein
und einander ergaenzen, als auch einander verschlingen. Manchmal dringt das
virtuelle Fragment in die Struktur des Erzaehlens ein und ersetzt sie.
Lotman bezeichnete diese "virtuelle Wirklichkeit" als "doppelter
Code". In diesem Zusammenhang behauptete er, dass diese Erscheinung dazu
fuehrt, dass der Hauptraum des Textes, das heisst seine fiktionale
Wirklichkeit, als 'real' empfunden wird. Daraus folgt, dass der Hauptext
als 'real' und virtuelle Abschnitte darin als 'fiktional' fungieren.
Nachstehend sprechen wir von dem Zusammenspiel der Textrealitaeten, das auf
gegenueberstellung "Wirklichkeit- Fiktion" basiert.
Man kann das mit Recht mit der Opposition "Vorhandenes-Moegliches"
vergleichen. In dieser Hinsicht ist Rolf Kieser zuzustimmen, der gerade die
durch das Tagebuch forcierte "Konfrontation von Dokumentation und reiner
Fiktion, der beiden Zeitbegriffe der linearen Chronologie und der
diachronischen Vergaengnis, der Oeffentlichkeit und des Individuums, des
objektiv erfassbaren Geschehnisses und der subjektiv erlebten Erfahrung,
der Ich- und der Er-Position" als Weg sieht, das eigene Wesen [...] in
dialektischer Befragung zu ertasten." (Kieser 1978: 126,) Es ist keine
Konkurrenz, sondern ein notwendiges sich Ergaenzen. Auch wenn "das Faktum
nur geringen Wert [hat], da sich das Ich in ihm nicht angemessen
ausdruecken kann," (edg.: 132) so ist der Bericht, das Protokoll u.ae. von
Bedeutung, weil die Umwelt des Ich widerspiegelt wird.
Die Analyse von diesen Konzepten gibt uns die Moeglichkeit zur
Untersuchung des Aufbaus des Romans vom Standpunkt seiner inneren
Realitaeten aus zu uebergehen.
2. Mehrschichtigkeit der Textwirklichkeit in "Stiller"
Der Roman "Stiller" weist eine aehnliche "Kaestchenstruktur" auf. Das
vollzieht sich erstens auf verschiedenen Ebenen der Textwirklichkeit und
zweitens traegt die perspektivierte Erzaehlweise dazu bei.
Im Rahmen des vorliegenden Forschungsthemas werden drei Ebenen der
fiktionalen Textwirklichkeit untersucht, weil sie als Elemente des
Zusammenspiels der Realitaeten fungieren. Die Mehrschichtigkeit kommt in
"Stiller" in solchen Textfragmenten wie amerikanische Geschichten, die
Knobel erzaehlt werden, parabolischen Geschichten und Traeumen zum
Ausdruck.
Frisch will die Wirklichkeit nicht nur in Fakten suchen, sondern
gleichwertig in Fiktionen. Indem der Tagebuchschreiber Fiktionen waehlt und
damit spielt, um sich auszudruecken, indem er Geschichten erzaehlt, also
moegliche Beispiele gibt, fuer das, was er erlebt hat, laeuft er nicht
Gefahr, sich selbst im Bildnis festzulegen.
Die Notwendigkeit sich mitzuteilen, kommt in "Stiller" dann zum
Ausdruck, wo der Gefangene dem Waerter Knobel Geschichten erzaehlt.
Diese Geschichten sind Beispiele fuer das obenerwaehnte Phaenomen
"Text im Text" und tragen zur inneren Mehrschichtigkeit des Textganzen bei.
Der Gefangene nennt das Rekonstruieren von Stillers Lebensgeschichte
"Protokollieren" (der schweizerische Text). Damit will er zweifellos seine
Objektivitaet betonen und beweisen, dass er nichts mit "Erinnerung" zu tun
hat. Neben der Lebensgeschichte Stillers spielt auch die Lebensgeschichte
des Gefangenen Mr. White eine Rolle (der amerikanische Text), oder besser
zu sagen sein Leben; denn er hat keine Lebensgeschichte, keine
Vergangenheit, sein Leben besteht eigentlich nur aus den Geschichten, die
er dem interessierten Waerter Knobel zum besten gibt. Er unterscheidet
dabei zwei Arten der Geschichten: einmal die Erzaehlungen von "Tatsachen",
zum anderen jene Geschichten, die der Gefangene als "wahre Geschichten"
bezeichnet. Diese Geschichten haben fuer den Gefangenen eine tiefere,
symbolische Bedeutung. Nicht die aeussere, mit Fotos belegte Wahrheit ist
fuer ihn wichtig, sondern innere, psychische Realitaet. Gerade im
Fabulieren, im Erfinden von Geschichten, umschreibt der Erzaehler sich
selbst, ohne sich selbst aber zu kennen. Nachtraeglich erst kann er sich im
Erfundenen selbst finden. Fuer Stiller wird schreiben in erster Linie zur
Strategie bei der Erforschung seines Ich. Es ist der Raum zum fabulieren.
Durch seinen Vergleich des Schreibprozesses mit einer sich haeutenden
Schlange, wird dies besonders deutlich: "Man kann sich nicht
niederschreiben, man kann sich nur hдuten" (Frisch 1992: 330). Das
Geschriebene, wird wie die abgelegte Haut der Schlange, zum Abfallprodukt
des Selbstfindungsprozesses.
Fuer Stiller sind die Geschichten deshalb nicht nur der Ausdruck der
eigenen Wirklichkeit, sondern zugleich die Moeglichkeit, sie (die
Wirklichkeit) zu erkennen.
Die Aufzeichnungen sind eine Auseinandersetzung mit Stiller, der er
nicht sein will. In diesen Aufzeichnungen versucht der Gefangene die
Lebensgeschichte Stillers zu rekonstruiren.
Auch in der psychoanalytischen Therapie wird die Lebensgeschichte
eines Menschen rekonstruiert. Freud spricht dabei vom "rueckschreitenden
Charakter der Analyse" und beschreibt diese psychoanalytische Technik als
Mittel, um "Verborgenes ans Licht zu ziehen". (Freud 1910: 112) Diese
Aufzeichnungen kann man mit der Arbeit des Psychoanalyse vergleichen: die
Handlung des Romans besteht in nichts anderem, als in der allmaehlichen
Enthuellung, dass Mr. White wenigstens aeusserlich der verschollene Stiller
ist.
Auf die Motivstruktur dieser Geschichten, vor allem aber auf die
Verflechtung von Fakten und Fiktionen darin moechte ich extra eingehen.
1. Erzaehlte Geschichten
Eine der Knobel erzaehlten Geschichten ist die Geschichte mit der
"kleinen Mulattin". (Frisch 1992: 50) White beschreibt eine seiner
Heldentaten am Rio Grande mit ausgepraegter Wahrhaftigkeit.
"[…] wir hockten gerade am unser Feuer, denn die Abende in der Wueste
sind bitterkalt, natuerlich gab es weit und breit kein Holz, wir
verbrannten Putzfaeden, was mehr Gestank, als Waerme gibt, und besprachen
mit den Schmugglern, wie sie uns in der Nacht ueber die Grenze schmuggeln
koennten[…]." (Frisch 1992: 51)
Ploetzlich taucht der Mann von der entfuehrten Mullatin, der eindeutig
kriegerisch gestimmt ist, in einer Limousine auf. Und wie schon erwaehnt
war, erschiesst White den letzten "auf der Stelle". (Frisch 1992: 52)
Der eigentliche Sinn der Geschichte laesst sich erst dann verstehen,
wenn sie mit der realen Geschichte verglichen wird. Die wahre Geschichte
geraet auf die Oberflaeche viel spaeter und wird nicht mehr dem
interessierten Waerter erzaehlt, sondern gehoert den uebrigen Gefaengnis-
Aufzeichnungen an.
"Ich schwoere: es gibt eine Mulattin namens Florence, Tochter eines
Dockarbeiters, ich habe sie taeglich gesehen und einige Male mit ihr
geplaudert ueber einen allerdings sehr trennenden, aus alten Teertonnen
ververtigten und von Brombeeren umwucherten Zaun hinweg. Es gibt sie, diese
Florence mit dem gazellenhaften Gang. Ich traeume von ihr, gewiss, die
wildesten Traeume." (Frisch 1992: 187)
Die "kleine Mulattin" aus der White- Geschichte bekommt nun einen
tastbaren realen Umriss und einen Namen. Damit aber kommt ein Signal der
Umschaltung der Realitaeten zum Ausdruck. In der ersten Geschichte geht
White als Frauenheld zu Werke: ""Ich mag die Neger", sage ich, "aber ich
vertrage keine verheirateten Maenner, auch wenn es Neger sind. Immer mit
Ruecksicht, das liegt mir nicht! Natuerlich fuhren wir sofort ueber die
Grenze."" (Frisch 1992: 52)
In der Wirklichkeit aber kommt an Stelle Whites Stiller, von einem
Schuerzenjaeger keine Spur. Davon zeugt eine Episode im Bar.
" Man weiss, wie Neger tanzen. Ihr Partner war gerade ein halbdunkler
US-Army-Sergeant. […]. Ein grosser Kerl mit den schmalen Hueften eines
Loewen, mit zwei Beinen aus Gummi und mit dem halbgeoeffneten Mund der Lust
[…], ein Kerl, der den Brustkorb und die Schultern eines Michelangelo-
Sklaven hatte, der konnte nicht mehr; Florence tanzte allein. Ich haette
jetzt einspringen koennen. Wenn ich gekonnt haette." (Frisch 1992: 188)
"[…] sie sah mich, sagte: Hallo! Nice to see you! Und es troestete
mich fast ueber das Bitterschoene meiner Verwirrung; denn ich wusste sehr
wohl, dass ich diesem Maedchen nie genuegen koennte." (Frisch 1992: 189)
Mr. White ist in den Geschichten mit allen Attributen eines Machos
ausgeruestet: er verhandelt mit den Schmugglern in der Nacht, erschiesst
den Rivalen auf der Stelle. In Wirklichkeit erweist sich eher Joe als
richtiger Macho: "Ein grosser Kerl mit den schmalen Hueften eines Loewen,
mit zwei Beinen aus Gummi und mit dem halbgeoeffneten Mund der Lust […]".
Stiller dagegen ist wiederum ein Versager "wenn ich gekonnt haette".
Und dann eine weitere Parallele, die diese Kluft zwischen White's
erwuenschten "Macho-Welt" und Stillers Verwirrung gegenueber Frauen
verdeutlicht: in der Macho- Geschichte erschiesst der kaltblutige White den
betrogenen Joe. In Wirklichkeit aber ist es Stiller, der zu kurze kommt.
"Der USA-Army-Sergeant stand auch so herum. […]. Dann aber, endlich,
kam meine herrliche Florence hinzu, gab mir ein Glas Bowle und sagte: "This
is Joe, my husband." Ich gratulierte." (Frisch 1992: 191)
Der wilde Westen, das exotische Mexiko dienen als Kulissen einer
phantasierten, abenteurlichen Freiheit, die sich Stiller, Realitaeten
tauschend, nehmen will. Zum Symbol dieses durch keine Fessel zu bindenden
Ausbruchs wird im Roman die Beschreibung des Vulkans Paricutin in Mexiko.
"Mitten aus der Finsternis von toten Schlacken, die der Mond
bescheint, ohne ihre Schwaerze tilgen zu koennen, schiesst sie hervor wie
hellichter Purpur, stossweise wie das Blut aus einem schwarzen Stier. Sie
muss sehr duenn und fluessig sein, diese Lava, fast blitzhaft schiesst sie
ueber den Berg hinunter, langsam an Helle verlierend, bis der naechste
Ausguss kommt, Glut wie aus dem Hochofen, lauchtend wie die Sonne, die
Nacht erluechtend mit der toedlichen Hitze, der wir alles Leben verdanken,
mit dem Innersten unseres Gehirns. Das muessten Sie sehen! In unserer
Seele, ich erinnere mich sehr genau, erwacht ein Jubel; wie er sich bloss
im Tanz entspannen koennte, im wildesten aller Taenze,ein Ueberschwang von
Entsetzen und Entzuecken, wie er die unbegreiflichen Menschen, die sich das
warme Herz aus dem Leibe schnitten, erfasst haben mag." (Frisch 1992: 46-
47)
Mit dieser Schilderung ersetzt Stiller zweifelsohne ihm widerliche
Wirklichkeit, stellt fiktive Freiheit dem realen innerlichen Zustand
gegenueber.
"Zuweilen, allein in meiner Zelle, habe ich das Gefuehl, das ich all
dies nur traeume; das Gefuehl: Ich koennte jederzeit aufstehen, die Haende
von meinem Gesicht nehmen und mich in Freiheit umsehen, das Gefaengnis ist
nur in mir." (Frisch 1992: 20)
Die Verwandschaft zwischen Dichtung und Psychoanalyse ist nicht zu
uebersehen: sie haben beide das menschliche Seelenleben zum Gegenstand, was
ganz besonders fuer Frischs Literatur zutrifft. Ein Unterschied besteht vor
allem darin, dass der Psychoanalytiker sich vorwiegend mit dem Seelenleben
anderer befasst, der Dichter dagegen die Figuren, die er darstellt aus
seinem eigenen Innern schoepft. (vgl. Freud 1907: 82)
Die Wirklichkeit liegt also nicht in der aeusseren Biographie; sie
kann nur mit Hilfe vom Erdichteten ausgedrueckt und umschrieben werden. In
seinen Phantasien will sich Stiller selbst erkunden.
2. Parabolische Geschichten in "Stiller"
Das Erzaehler-Ich in "Stiller" instrumentalisiert die Fiktion, um u.a.
seiner Suche nach dem wahren Ich Ausdruck zu verleihen. Das Eintauchen in
die Schichten seines Bewusstseins wird zur Abenteuergeschichte ueber eine
Expedition in eine Grotte. Die Geschichte beginnt wie die anderen Knobel
erzaehlten Geschichten als Abenteuer in Texas, der Erzaehler schildert sich
als Cowboy. Bald jedoch gewinnt die spannende Geschichte von der
Erforschung einer Hoehle eine tiefere Dimension: aus dem "unterirdischen
Arsenal der Metaphern" (Frisch 1992: 165) wird ein Sinnbild des
Unterbewusstseins, in dem der Kampf zwischen Jim und Jim, zwischen dem
alten und dem neuen Ich vor sich geht. Das ist ein klarer Hinweis auf die
Persoenlichkeitsspaltung des Erzaehlers, als auch auf die Todeserfahrung,
die Stiller bei seinem Selbstmordversuch gemacht hat; dies wird noch
deutlicher beim Anblick des Skelettes, wenn der Erzaehler sagt: "[…] ich
[…] musste meinen ganzen Verstand zusammennehmen, um nicht das Skelett,
dass da im runden Schein der Lampe lag, schlechterdings fuer mein eigenes
zu halten" (Frisch 1992: 162) Der schwierige Aufstieg aus der Hoehle ist
ein Symbol fuer die Wiedergeburt des neuen Ich, die Stiller nach seinem
Selbstmordversuch erlebt hat. Vergleicht er seine Erfahrung danach mit
einem Kindheitserlebnis: "[…] als Buben krochen wir manchmal durch einen
Abwasserkanal, das ferne Loch mit Tagesschein erschien viel zu klein, als
dass man je herauskommen koennte" (Frisch 1992: 379), so beschreibt er den
Ausgang der Hoehle mit aehnlichen Worten: "[…] ich sah ein paar Sterne, ein
paar scheinlose Funken in unendlicher Ferne". (Frisch 1992: 160)
Der Preis fuer diese Wiedergeburt ist der Kampf mit seinem 'Alter Ego'
und dessen Vernichtung; von ihm heisst es spaeter: "Ich denke, dieser
Verschollene wird sich auch nicht mehr melden!" (Frisch 1992: 172)
So bestaetigt die Antwort des Erzaehler-Ichs auf die Frage des
Gefaengniswaerters Knobel, ob er die Hauptperson in dieser Geschichte sei,
eben dieses Verfahren, Erlebnismuster in Fiktionen auszudruecken: "Nein,
[...] das gerade nicht! Aber was ich selber erlebt habe, sehen Sie, das war
genau das gleiche - genau." (Frisch 1992: 172).
In aehnlichem MaЯe tragen die Geschichte von Isidor und das Maerchen
von Rip van Winkle die Erfahrung in sich, den Anforderungen einer Rolle
nicht gerecht zu werden. Die beiden sind Heimkehrgeschichten, obwohl Jim
White die Schweiz zum ersten mal bereist: der Heimkehrer ist naemlich
Stiller.
Die erste Geschichte, die das Thema "Heimkehren" anschlaegt ist die
von Isidor. White schreibt sie mit der Absicht nieder, sie Julika zu
erzaehlen, die aus Paris geholt wird, um mit ihm konfrontiert zu werden.
"Eine wahre Geschichte", so betont er ausdruecklich (Frisch 1992: 41); es
ist der erste Hinweis darauf, dass die "kleine Schnurre" (edg) in Beziehung
zu seiner eigenen Problematik steht. Hier kann man zahlreiche Parallelen
zwischen Whites Fiktion und Stillers Realitaet ziehen; erstens durch die
Zahl der Ehejahre, denn auch Stiller und Julika waren neun Jahre
verheiratet, ehe Stiller-wie Isidor- ploetzlich verschwand. Ironisch heisst
es, es sei im Grunde eine glueckliche Ehe gewesen, auch werden beide Frauen
als sehr liebenswert bezeichnet. Noch deutlicher wird die Beziehung
zwischen dem Fiktiven und Realen, als der Erzaehler berichtet, er habe die
Geschichte seiner schoenen Besucherin angepasst, "also unter Weglassung der
fuenf Kinder und unter freier Verwendung eines Traumes […] Isidor gibt,
sooft er auftaucht, keine Schuesse in die Torte, sondern zeigt nur seine
beiden Haende mit Wundmalen" (Frisch 1992: 56). Der Heimkehrer will mit
dieser Geschichte sich und seine Motive Julika verstaendlich machen. Julika
aber reagiert genauso wie Isidors Frau, indem sie mit fast den gleichen
Worten sagt: "Warum hast du nie geschrieben? Wo bist du nur all die Jahre
gewesen?" (Frisch 1992: 59) Mit anderen Worten: sie ist nicht bereit in ihm
einen neuen, gewandelten Menschen zu sehen: "Ach, […] du bist noch immer
der gleiche" (Frisch 1992: 57)
Eine Ehe- und Heimkehrgeschichte ist auch das Maerchen von Rip van
Winkle, das Frisch von Washington Irving uebernommen und fuer seine Zwecke
leicht veraendert hat. Der Heimkehrer nennt sich in diesem Maerchen nicht
White, sondern Rip van Winkle, wodurch eine parabolische Spiegelung
entsteht. Die Ausgangssituation ist in beiden Geschichten aehnlich. Stiller
erkennt sich in Rip van Winkle wieder. Wie dieser ist er in den Augen der
Gesellschaft ein Versager, waehrend seine Frau, ebenso wie Julika, von
allen bedauert und bewundert wird.
Im Grunde ist dieser Rip van Winkle ein "herzensguter Kerl" (Frisch
1992: 72) und ein Fischer, "der nicht um der Fische willen fischte, sondern
um zu traeumen"(edg), und aehnelt so Stiller dem "deutschen Traeumer".
" Rip fuehlte es wohl, dass er einen Beruf haben muesste, und liebte
es, sich als Jaeger auszugeben"(Frisch 1992: 73), doch auf weibliche Tiere
vermag der "Jaeger mit dem Schiessgewehr" (edg) nicht abzudruecken- "stets
hatte er mehr erlebt, als geschossen". (edg).
Sehr wichtig fuer das Verstehen Stillers Intention ist der Schluss der
Geschichte. Rip van Winkle bleibt bei Frisch ein "Fremdling in fremder
Welt" (Frisch 1992: 76), der an seiner Identitaet zweifelt. Auf die Frage,
wer er ist, antwortet er: "Gott weiss es, gestern noch meinte ich es zu
wissen, aber heute, da ich erwacht bin, wie soll ich es wissen?" (edg).
Fast die gleichen Worte gebraucht der Tagebuchschreiber, um seine Situation
zu beschreiben: "Weiss ich denn selbst, wer ich bin?" (Frisch 1992: 84)
Dies schreibt er, kurz nachdem er dem Verteitiger das Maerchen erzaehlt hat
um diesem "aus seinem nachgerade ergreifenden Missverstaendnis meiner Lage
[…] herauszuhelfen" (Frisch 1992: 70) Waehrend aber der heimkehrende White
wider seinen Willen sofort als Stiller identifiziert wird, bleibt van
Winkle selbst gegenueber seiner Tochter unbekannt. Rip van Winkle gelingt
es praktisch wider Willen, was Stiller mit allen seinen Kraeften vergeblich
anstrebt: er kehrt als Unbekannter, als Fremder in sein Dorf zurueck.
Der Tagebuchschreiber erfindet also die Geschichten, um einerseits das
Erwuenschte ans Licht zu bringen, um widerliche Wirklichkeit zu ersetzen
und andererseits um dem Bildnis, dass seine Umwelt von ihm hat, nicht
gerecht zu werden. Er ist auf der Suche nach seiner "Wirklichkeit, denn es
gibt keine Flucht, und was sie mir anbieten, ist Flucht, nicht Freiheit,
Flucht in eine Rolle." (Frisch 1992: 49)
Mit Traeumen verhalte es sich ebenso, in beiden Faellen spielen vor
allem verdraengte Wuensche eine Rolle. Das Erfinden von Geschichten und die
durch Traeume ersetzte Wirklichkeit geben dem Tagebuchschreiber eine
Moeglichkeit sich selbst zwischen dem Fiktiven und Realem zu finden.
2.3 Traeume
Der Roman "Stiller" ist, wie Frisch einmal selbst formuliert hat, "das
Tagebuch eines Gefangenen, der sich selbst entfliehen will" (Bienek 1969:
24) Aber mit Flucht ist nicht nur die Flucht in den Raum gemeint, sondern
eine Flucht vor sich selbst.
Diesen Gedanken wiederspiegeln zwei Traeume von Stiller, die im Rahmen
dieser Behauptung analysiert werden. Der erste ist der sogenannte "Traum
von Militaer". Diesen Traum verursacht eine Fahrt in ein Zeughaus, "um die
soldatische Ausruestung des Verschollenen zu besichtigen" (Frisch 1992:
152)
Im Traum werden vom Tagebuchschreiber die Ereignisse der vergangenen
Woche verarbeitet und so kommen sie dann zum Ausdruck: "Getraeumt: ich
trage den Waffenrock von Stiller, dazu Helm und Gewehr." (Frisch 1992:
174).
Es war tatsaechlich der Fall waehrend des Besuches, dass White
gezwungen war die Militaerausruestung des Verschollenen anzuziehen: "Ich
komme nicht zu Wort. Auch den Waffenrock ihres Verschollenen habe ich
anzuziehen" (Frisch 1992: 154)
"[…] ich sollte meine Unterschrift geben, um den Empfang eines
Gewehres und der neuen Marschschuhe zu bestaetigen." (Frisch 1992: 155)
Nach Freuds These: "Durch den Traum koennen wir manches wissen, was
wir uns weigern, wach zu wissen." (Freud 1945: 66) koennen wir behaupten,
dass jeder Traum seinen Sinn hat. Er sieht in dem Traum einen Vermittler
zwischen dem Unterbewusstsein und dem Bewusstsein. Der Mensch aeuЯert nach
Freud in jedem Traum seinen innersten geheimen Willen, er sieht den Traum
als "Hueter des Schlafes".
Uns auf den Freudschen Gedanken stuetzend, koennen wir behaupten, dass
das ausschlaggebende in diesem Traum, in dieser Wirklichkeitsbewaeltigung
die Tatsache ist, die Stiller spaeter in seinen Aufzeichnungen
protokolliert.
"Es ist komisch, nicht einmal im Traum fuehle ich mich als Mitrailleur
Stiller" (Frisch 1992: 174)
Dieser Satz zeugt davon, dass Stiller sogar in Traeumen den Gedanken
nicht aufgibt von der Wirklichkeit zu fliehen, ihm aufgezwungene Realitaet
loszuwerden und sich selbst ein Fremder zu sein.
Dieser Flucht von der Wirklichkeit und vor allem vor sich selbst
liegt das Gefuehl zugrunde, in allem ein Versager zu sein.
" Ich bin kein Mann. Jahrelang habe ich davon getraeumt: ich moechte
schiessen, aber es schiesst nicht- ich brauche dir nicht zu sagen, was das
heisst, es ist der typische Traum der Impotenz". (Frisch 1992: 269)
Der Traumdeutungstheorie von Sigmund Freud zufolge lassen sich Traeume
mit Hilfe ihrer Symbole verstehen. Die letzten sind mehrdeutig und koennen
verschiedene Bedeutungen haben.
Zum Beispiel Traeume, die eine Flucht beinhalten, haben im Gegensatz
zu den meisten anderen Traumbildern haeufig ein eindeutig negatives Bild,
denn auf der Flucht wird sich kaum jemand wohl fuehlen. Auf der anderen
Seite kann dieses Traumbild auch darauf hindeuten, dass man sein Leben zu
wenig selbst in die Hand nimmt, seine Kraefte unterschaetzt und nicht zu
kaempfen wagt. So unangenehm Fluchttraeume sind, so beinhalten sie doch
stets auch einen positiven Aspekt, da Flucht stets auch eine Loesung
darstellt.
Der Gegenpol zum Fluchtbild ist das Bild des Kampfes, das in Traeumen
in vielen Variationen auftaucht. So kann man davon traeumen, verbal mit
jemandem zu kaempfen, also zu streiten, man kann sich in
Handgreiflichkeiten verwickelt sehen, oder man kann von Krieg traeumen.
Diese Symbolik ist besonders fuer die Interpraetation des Traums von
Stiller wichtig. Normalerweise wird Kampf als ein Konflikt mit sich selbst
gedeutet; man hegt einander widersprechende Gefuehle oder Gedanken. Bei der
Deutung ist auch wichtig, ob der Kampf gewonnen oder verloren wird. Im
ersten Fall koennen durchaus positive Gefuehle geweckt werden, im zweiten
Fall- und das ist gerade der von Stiller- ist die Sache frustrierend und
kann zum Ausloeser fuer Fluchttraeume werden.
Stiller fuehlt sich als einer, der versagt hat, er will eine
Vergangenheit abschuetteln, die fuer ihn voll negativer Erinnerungen ist.
Sein Versagen empfindet er in dreifacher Hinsicht: als Kaempfer, als
Liebender, als Kuenstler. Als Kaempfer hat er in Spanien versagt, wo er als
Freiwilliger am Buergerkrieg teilgenommen hat. Dass er nicht auf die Feinde
geschossen hat, obwohl er den Befehl und die Moeglichkeit dazu hatte, kann
er sich selber nie verzeihen.
Hier werden zwei Realitaeten miteinander konfrontiert:einerseits ist
es die Wirklichkeit, die mit dem Spanienerlebnis verbunden ist:
"Ich hatte einen Auftrag, ich hatte mich sogar darum beworben, ich
hatte den Befehl, die Faehre zu bewachen, einen vollkommen klaren Befehl.
Was weiter! Es ging nicht um mich, es ging um tausend andere, um eine
Sache. Ich hatte zu schiessen. Wozu war ich in Spanien? Es war ein Verrat."
(Frisch 1992: 268)
Andererseits ist es die fiktive Realitaet, die der wiederkehrende
Traum vom Gewehr, das nicht losgeht, beinhaltet: "ich moechte schiessen,
aber es schiesst nicht." (Frisch 1992: 269)
Von diesem Erlebnis kommt er innerlich nicht los, es wird in einer
Gesellschaft erzaehlt, in der er seine spaetere Frau Julika kennen lernt,
und ebenso erzaehlt er es spaeter Sibylle, als sie ihn zum ersten Mal in
seinem Atelier besucht. Waehrend Julika gar nicht versteht, welche
Bedeutung dieses Erlebnis fuer ihn hat, macht ihn Sibylle darauf
aufmerksam, dass er etwas auf sich genommen habe, was seinem Wesen gar
nicht entsprach. "Wer verlangt von dir, dass du ein Kaempfer bist, ein
Krieger, einer, der schiessen kann?"
(Frisch 1992: 269), fragt sie ihn. Sie sieht, dass Stiller sich selbst
ueberfordert hat, dass er schon damals etwas anderes sein wollte, als er
eigentlich war. "Er leidet an der klassischen Minderwertigkeitsangst aus
uebertriebener Anforderung an sich selbst" (Frisch 1992: 252), so
beschreibt der Tagebuchschreiber im Rueckblick den verschollenen Stiller.
Die Niederlage in Spanien, als die Stiller dieses Erlebnis immer wieder
bezeichnet, ist einer der Hauptgruende fuer seine
Minderwertigkeitskomplexe. Natuerlich betreffen diese Komplexe auch den
erotischen Bereich, und den immer wiederkehrenden Traum vom Gewehr, das
nicht losgeht deutet Stiller selbst als "typische(n) Traum der Impotenz"
(Frisch 1992: 269). "Schiessen" ist in diesem Zusammenhang ambivalent-
woertlich Bereitschaft jemandem das Leben zu nehmen, metaphorisch
Bereitschaft jemandem das Leben zu geben. Das Gewehr ist demzufolge in der
Semantisierung durch Stiller woertlich Mordinstrument, metaphorisch
Sexualorgan. Stillers Angst bleibt rein psychologisch. Er will "nicht
geliebt werden"(Frisch 1992: 269) und hat "eigentlich Angst vor Frauen"
(Frisch 1992: 254), doch "immer war da ein Weib " (Frisch 1992: 311). Er
kompensiert die Angst und "erobert mehr, als er zu halten vermag" (Frisch
1992: 254).
Zwar ist Stiller nicht impotent, aber es gelingt ihm nicht, eine
dauerhafte Bindung zu einer Frau zu finden. Die Ehe mit seiner Frau Julika
wird fuer ihn zu einer Probe, an der er scheitert. Seine Schuldgefuehle
werden dadurch verstaerkt, dass Julika krank wird und in ein Sanatorium
nach Davos gehen muss. Zwar hat er inzwischen in Sibylle eine Frau
kennengelernt, deren heitere, offene Art ihm eine weniger problemgeladene
Beziehung und Bindung moeglich erscheinen laesst, jedoch ist sein
Verhaeltnis zu ihr wiederum durch seine Schuldgefuehle gegenueber Julika
belastet, und so wird sein Versagen als Liebender zum weiteren Anlass
seiner Flucht nach Amerika.
Der dritte Punkt, in dem er sich als Versager fuehlt, ist sein Beruf,
die Bildhauerei; ob zu Recht oder nicht, kann aus dem Text nicht eindeutig
erschlossen werden. Mr. White schreibt darueber: "Wie begabt er nun
eigentlich war, ihr verschollener Stiller, daruber gingen die Meinungen
offenbar von Anfang an auseinander, und es gab Leute, die ihn nie fuer
einen Kuenstler hielten" (Frisch 1992: 91). Sibylle dagegen ist beim
Blaettern in seinem Skizzenbuch "bestuerzt im Gefuehl, sich in einen
Meister verliebt zu haben" (Frisch 1992: 263) Stiller selbst jedenfalls
glaubt, in der Kunst versagt zu haben, und zerschlaegt ja auch,
heimgekehrt, bei einem Lokaltermin alle seine Werke. Allerdings darf man in
dieser Handlung nicht nur eine Auseinandersetzung mit seiner Kunst sehen,
er versucht vielmehr ein letztes Mal seine Vergangenheit zu zerschlagen, um
von ihr frei zu werden.
"Julika scheint erwartet zu haben, mein Gestaendnis liege bereits vor,
[…]." (Frisch 1992: 366)
"Noch immer mit der warmen Ruhe der Zuversicht versuche ich Julika zu
erklaeren, warum sie, so sie mich wirklich liebt, kein Gestaendnis von mir
braucht, dass ich ihr verschollener Gatte sei." (Frisch 1992: 367)
"[…], nach einigem Warten, […], erhebe ich mich, spuere ploetzlich
sehr schwere Beine, staube meinen Mantel ab, um Zeit fuer irgendeine
gluecklichere Wendung zu lassen, gehe endlich zur Tuere, […], die
geschlossen ist. Geschlossen." (Frisch 1992: 368)
""Da!"-lache ich vor Wut, die mich im Grunde doch nicht verlassen hat,
und reisse so ein Sacktuch ab, ratsch, und wie erwartet: lauter Staub, von
keinem Verteitiger zu halten, ein Gebroesel von trockenem Lehm, und das
naechste ebenso, Mumien, nichts als Mumien, das ist aber auch alles, was
von ihrem verschollenen Stiller sich haelt, der Rest ist Erde, wie der
Pfarrer sagt, ein paar graubraune Klumpen auf dem Boden, vor allem aber
eine Wolke von braunem Staub, wenn ich die Sacktuecher schuettle." (Frisch
1992: 370)
War das Gefuehl, in dreifacher Hinsicht versagt zu haben, der Grund
fuer Stillers Flucht nach Amerika, so lohnt es sich zu fragen, ob es ihm
dort gelungen ist, sich ein neues Leben und eine neue Identitaet mit sich
selbst aufzubauen. Dem naiven Waerter Knobel gegenueber, der seine
Erzaehlungen staunend und glaeubig anhoert, zeichnet er ein Gegenbild:
einen erfolgreichen Mann, der sich ohne Hemmungen nimmt, was er haben
moechte, und der Glueck bei den Frauen hat. So ermordet er den Haaroel-
Gangster Schmitz mit dem Dolch, weil "dem in einem ordentlichen Rechtsstaat
nicht beizukommen ist" (Frisch 1992: 25); rettet eine Mulattin aus dem
brennenden Saegewerk, erschiesst ihren Mann Joe: "Liebst du mich oder
liebst du ihn?[…] Und Schuss. Und kein Wort mehr von Joe" (Frisch 1992:
52).
Die Wirklichkeit seines Amerika-Aufenthaltes hat offenbar anders
ausgesehen. Wenn man auch nur wenig ueber Stillers Leben dort erfaehrt, so
wird doch deutlich, dass er seine Vergangenheit, insbesondere seine
Schuldgefuehle gegenueber seiner Frau, auch hier nicht abschuetteln kann.
Sinnbild dieser Bindung an die Vergangenheit ist die Geschichte von der
Katze, die leitmotivisch das Tagebuch durchzieht. Wenn wir die Gestalt von
"Little Grey" in die Analyse miteinbeziehen, koennen wir feststellen, dass
White in diesem Bild symbolisch fuer Stiller steht. Die Beziehung von White
zu seiner Katze zeigt Interpetationsmoeglichkeiten bezueglich derselben zu
den Beziehungen von Stiller und Julika. Es war in Oakland/ California, und
er durfte im Hause wohnen, wenn er dafuer die Katze fuetterte. Wenn sie ihn
stoerte, warf er sie hinaus. Doch sie fand wieder ins Haus: "Es wurde ein
Kampf um Ausdauer… weil sie um meine Huette jaulte und mich der ganzen
Nachberschaft verschrie… Ihr Blick drohte mit sterben…"(Frisch 1992: 62)
Es ist genauso wie bei Julika, durch deren Krankheit er sich an sie
gefesselt fuehlt. Auch das Gefuehl der eigenen Minderwertigkeit gegenueber
Julika uebertraegt er auf die Katze:"Sie lebte… wenn auch mit der Miene
einer Siegerin…" (Frisch 1992: 339)
Die Tatsache, dass Stiller die Katze einmal in dem Eisschrank
eingesperrt hat, koennte Julika's Frigiditaet symbolisieren, ueber die sich
Stiller im Nachwort bei Rolf beklagt.
Er wird die Katze, die er einmal als "Vorbote(n)" bezeichnet (61) und
die er innerlich mit seiner Frau in Beziehung setzt (Frisch 1992: 339),
ebenso wenig los wie seine Vergangenheit.
Den letzten verzweifelten Schritt, damit zu brechen, stellt der
Selbstmordversuch dar, den Stiller zwei Jahre vor seiner Rueckkehr in die
Schweiz unternimmt. Es ist der Versuch, "ein Leben, das nie eines gewesen
war" (Frisch 1992: 381), von sich zu werfen. Der Schmerz und der Schrecken,
die hinterher einsetzen, zeigen ihm, dass er lebt; er nennt dieses Erlebnis
seinen Engel. Nun will er so leben, "dass ein wirklicher Tod zustandekommt"
(Frisch 1992: 381), das heisst, dass er mit sich selbst identisch wird.
Stiller kann ueber dieses Erlebnis nur in Andeutungen berichten, es "ist
nicht verbalisierbar, dabei ist gerade darin seine tiefste Erkenntnis ueber
sich selbst begruendet" (Tildy 1967: 23). Das Gefuehl, von diesem Zeitpunkt
an ein neues Leben begonnen zu haben, "die bestimmte Empfindung, jetzt erst
geboren worden zu sein" (Frisch 1992: 381), ist der tiefste und meiner
Meinung nach der eigentliche Grund, weswegen der Heimkehrer sich weigert
seinen frueheren Namen wieder anzunehmen. Denn damit geriet er unweigerlich
wieder in sein frueheres Leben hinein, ubernaehme eine Rolle, in die er
nicht mehr passt. Niemand ist naemlich bereit in ihm einen neuen,
gewandelten Menschen zu sehen, jeder sucht in ihm nur die Zuege des Anatol
Stiller, die er von frueher her kennt. Darum heisst es schon auf S. 49:
"Ich bin nicht ihr Stiller [...] Wozu mein Geflunker? Nur damit sie mir
meine Leere lassen, meine Nichtigkeit, meine Wirklichkeit, denn es gibt
keine Flucht, und was sie mir anbieten, ist Flucht, nicht Freiheit, Flucht
in eine Rolle". (Frisch 1992: 49)
" Es gibt keine Flucht" - dieser Satz taucht immer wieder auf und
diese Einsicht ist eine der Grundlagen des Romans ueberhaupt, denn weil
Stiller erfahren hat, dass Flucht vor sich selbst nicht nuetzt, um mit sich
selbst fertig zu werden, kehrt er in die Schweiz zurueck. Aber mit der
Rueckkehr in die Schweiz ist die Flucht vor sich selbst noch nicht
aufgehoben, denn der Gefangene weigert sich die Identitaet mit dem
Verschollenen zu gestehen.
Max Frisch hat in seinem Roman eine innere, psychische Situation,
naemlich die Flucht vor sich selbst als eine aeusserliche Situation
dargestellt. Der Roman ist eine Darstellung eines Ich-Zerfalls und zugleich
der Versuch der Wiederherstellung, der Heilung durch Selbstsuche. Gleich
mit dem Beginn des Romans faengt diese Selbstsuche an und in dieser
Ausseinandersetzung mit sich selbst liegt die psychoanalytische Faerbung
des Romans.
"Was Frisch hier darstellt, ist tatsaechlich eine Art Selbstanalyse
als Reaktion auf das Scheitern der Flucht vor sich selbst, und diese
Selbstanalyse hat sehr viel Aehnlichkeit mit der psychoanalytische
Therapie" (Wesstein 1967: 256)
3. Der amerikanische und der schweizerische Text im Roman.
Versuch einer vergleichenden Analyse
Das Zusammenspiel der Realitaeten kann aus einer anderen Sicht
untersucht werden, die aber von dem Begriff der Mehrschichtigkeit in
"Stiller" nicht wegzudenken ist. Das ist die Opposition 'die Schweiz-
Amerika', wo Amerika aus Stillers Perspektive fuer die Welt der Flucht
steht und die Schweiz der Ort seines Versagens ist.
Bei der kritischen Darstellung der Schweiz muss zwischen der Stillers
und der Whites unterschieden werden, das heisst zwischen den kritischen
Aeusserungen Stillers vor seiner Flucht nach Amerika, die von anderen
Personen berichtet werden, und denen, die der Ich- Erzaehler in der
Gegenwart selbst ausspricht.
Im Rahmen der vorliegenden Analyse ist gerade Whites Position
gegenueber der Schweiz von Bedeutung, insbesondere in ihrer Opposition zu
Amerika, weil sie zu einem Instrument des Zusammenspieles zwischen Fakt und
Fiktion wird.
Die Gesellschaftskritik Mr. Whites ist durch die Form bestimmt. Der
Ich- Erzaehler tritt als Amerikaner auf, er schildert die Welt, die er
sieht, quasi von aussen, als Fremder, wenn er schreibt: " Zuerich koennte
ein reizendes Staedchen sein" (Frisch 1992: 77) (und darin liegt schon eine
gewisse Kritik), wenn er Zuericher Grossmuenster "eine Art kleine
Kathedrale" nennt, so glaubt man zunaechst, White sei wirklich ein Fremder.
Allmaehlich aber gewinnt seine Kritik an der Schweiz eine Schaerfe, wie sie
ein Fremder wohl nicht aufbraechte. Der Verteitiger nimmt es auch als
Beweis dafuer, dass sein Mandant Schweizer und somit der gesuchte Stiller
ist.
" Sie wollen mir nur vormachen, dass Sie kein Schweizer sind und somit
nicht Stiller", sagt er, " aber Sie werden mir nichts vormachen; ihr Hass
gegen die Schweiz beweisst mir noch lange nicht, dass Sie kein Schweizer
sind. Im Gegenteil!" ruft er, da ich lache, " gerade damit verraten Sie
sich." (Frisch 1992: 196)
Der Tagebuchschreiber betont jedoch, dass seine Kritik eigentlich
nicht der Schweiz gelte: " Ich hasse nicht die Schweiz, sondern die
Verlogenheit" (Frisch 1992: 196). Diese Erscheinung ist keinesfalls auf die
Schweiz beschraenkt, entzuendet aber stets die Kritik an den Schweizer
Verhaeltnissen. Sie scheinen alles zusammenzufassen, was Stiller an der
buergerlichen Gesellschaft ueberhaupt kritiesiert. Das haengt wohl mit der
Funktion zusammen, die die Schweiz fuer ihn und seine Identitaetsfindung
hat. So meint Jurgensen: " Stillers Gesellschaftskritik ist ein
wesentlicher Bestandteil seiner Selbstanalyse" (Juergensen 1972: 80)
1. Die raeumliche Perspektive
Der Schweiz, deren raeumliche und geistige Enge Stiller ein Aergernis
ist, wird im Roman ein Gegenbild gegenuebergestellt: Amerika, Sinnbild der
Weite, des urspruenglichen, nicht genormten Lebens.
In folgenden Zitaten kommt diese Gegenueberstellung durch die Wortwahl
zum Ausdruck, wobei fuer die Schweiz Epitheta wie "klein, angemessen,
genuegend" und fuer Amerika solche wie "gross, gluehend, unsaeglich,
bluehend" gewaehlt werden:
"Meine Zelle- ich habe sie eben mit meinem Schuh gemessen, der nicht
ganz dreissig Zentimeter hat - ist klein wie alles in diesem Land, sauber,
so dass man kaum atmen kann vor Hygiene, und beklommend gerade dadurch,
dass alles recht, angemessen und genuegend ist." (Frisch 1992: 15-16)
"Ich sitze in meiner Zelle, Blick gegen die Mauer, und sehe die
Wueste. Beispielsweise die Wueste von Chihuahua. Ich sehe ihre groesse Oede
von bluehender Farben, wo sonst nichts anderes mehr blueht, Farben des
gluehenden Mittags, Farben der Daemmerung, Farben der unsaeglichen Nacht."
(Frisch 1992: 26)
Stiller versucht dem engen und konventionellen Leben in Europa zu
entfliehen und auf dem neuen Kontinent ein freieres Leben zu beginnen.
Allerdings soll diese Deutung eingeschraenkt werden: Sie gilt im "Stiller"
vor allem fuer Mexiko. Was Stiller fasziniert, ist nicht nur die Weite, die
metaphorisch fuer seelische Freiheit steht, sondern auch die
Selbstverstaendlichkeit, mit der die Menschen in Mexiko dem Leben und Tod
gegenueberstehen. Der Erinnerung an den Totentag in Mexiko wird kurz darauf
der Besuch auf dem Friedhof in Zuerich am Grabe der Mutter
gegenuebergestellt: hier die wortlose Hilfslosichkeit zweier Protestanten
gegenueber dem Phaenomen des Todes, dort der selbstverstaendliche Einklang
von Leben und Tod.
" Ich muss […] an den Totentag denken, wie ich ihn auf Janitzio sah,
an die indianischen Muetter, wie sie auf den Graebern kauern die ganze
Nacht, alle in ihren festlichen Trachten, sorgsam gekaemmt wie fuer die
Hochzeit, und scheinbar geschieht ueberhaupt nichts, der Friedhof ist eine
Terrasse ueber dem schwarzen See[..], ein Friedhof ohne einen einzigen
Grabstein oder sonst ein Zeichen […], dazu die Teller mit allerlei Speisen,
die mit einem sauberen Tuechlein bedeckt ist, vor allem aber das sonderbare
Ding, das mit weihnachtlicher Liebe gebastelt worden ist, ein Gestell aus
Bambus, daran das Gebaeck und Blumen, die Fruechte, das bunte Zuckerzeug."
(Frisch 1992: 319)
"Das Grab der Mutter: - wie Graeber hierzulande eben sind, mit
gestelltem Granit saeuberlich eingefasst, alle etwas zu kurz, so, dass man
den Schrecken hat, den Toten auf den Fuessen zu stehen, dazwischen
Kieswege, immergruen am Rand, in der Mitte des Grabes eine toenerne Vase,
ein paar welke Astern drin, hintern dem Stein eine rosige Blechbueckse, um
die Blumen zu begiessen." (Frisch 1992: 324)
Sehr viel kritischer aeussert sich der Tagebuchschreiber ueber New
York. Waehrend der Staatsanwalt von der Rainbow- Bar schwaermt, erzaehlt er
ihm von der Bowery, einem "Viertel, wo auch die Polizei nicht mehr hingeht,
Gefilde der Verlorenen" (Frisch 1992: 176), wo er in einem betrunkenen
Greis seinen Stiefvater zu erkennen glaubt. Hier zeigt sich, dass es
Stiller nicht um die Gesellschaftskritik geht, sondern dass er ueberall
seine persoehnliche Problematik sieht. Dies geht auch vor allem aus der
Schilderung seiner ersten Eindruecke nach der Landung hervor, wo es heisst:
" Ich sah die Praerie, die Schlaechtereien von Chikago, die Mormonen,
die Indianer, die groesste Kupfergrube der Welt […]." Und doch verfolgt ihn
der Gedanke an seine " grazile Balletteuse". (Frisch 1992: 338)
Diese Stelle im Roman zeugt davon, dass der Ankoemmling, der von
seinem frueheren Leben flieht, seine Identitaet leugnet, trotzdem seine
Vergangenheit mit seiner Gegenwart vergleicht, mit anderen Worten sie nicht
loswird.
2. Die zeitliche Perspektive
Wie gesagt, kann der Tagebuchschreiber seine Vergangenheit nicht
abschuetteln. Diese Tatsache widerspiegelt sich auch auf der Zeitebene, wo
Vergangenheit und Gegenwart ineinander verflochten bleiben. Dadurch
entstehen Brechungen, sodass sich Ereignisse gegeseitig spiegeln und
erhellen.
Keine chronologisch erzaehlte Handlung ist im Roman vorhanden, sondern
ein kompliziertes Geflecht mehrerer Zeitebenen. Die Vergangenheit wird in
Form von Rueckerinnerungen und Berichten in die Gegenwart hereingeholt und
mit ihr konfrontiert.
"Ich soll mein Leben erzaehlen, und wenn ich versuche, mich
verstaendlich zu machen, sagen sie: Hirngespinste! […]. Mein Verteidiger
hoert zu, solange ich von meinem Haus in Oakland rede, von Negern und
anderen Tatsachen; sowie ich zur wahren Geschichte komme […] putzt mein
Vertedtiger sich die Fingernaegel, wartet nur darauf, mich zu unterbrechen
mit irgendeiner Lappalie: "Sie hatten ein Haus in Oakland?" […] Es war vier
Meter breit und dreizehn Meter lang (mein Verteitiger notiert, das ist es,
was er wissen will!) und eigentlich, ganz genau zu sein, war es eher eine
Schindelhuette." (Frisch 1992: 60-61)
In diesem Zusammenhang kann man behaupten, dass die Zeit zum Objekt
und zugleich zum Instrument im Zusammenspiel der Realitaeten wird.
Wenn wir die Zeitstruktur des Romans unter die Luppe nehmen, ist auch
in erster Linie zwischen dem schweizerischen und amerikanischen/
mexikanischen Text zu unterscheiden. Fuer das, was aus Amerika berichtet
wird, ist keine genaue Datierung festzulegen, mit Ausnahme des
Selbstmordversuchs, den Stiller vor seiner Rueckkehr unternimmt. White hat
also keine Vergangenheit, die sich erzaehlen liesse, er gibt nur einzelne
Impressionen wieder, einzelne, nicht chronologisch aufeinander folgende
Erinnerungen, die sich meist auf den Aufenthalt in Mexiko beziehen. Diese
Mexiko-Erinnerungen sind haeufig im Praesens geschrieben, ein Zeichen fur
eine Art Zeitlosigkeit des dortigen Lebens.
Im Unterschied dazu ist fuer den 'schweizerischen Text' eine andere
Zeitform, das Praeteritum, charakteristisch.
"Auf dem Tischlein standen drei Rosen, alles im Preis inbegriffen und
alles, versteht sich, bei Kerzenlicht." (Frisch 1992: 298)
"Mexiko! Man erinnert sich an Farbfilme, und genauso ist es,
malerisch, sehr malerisch, und doch, in Wirklichkeit, gibt es Augenblicke,
wo man sich ploetzlich fuerchtet. Es stinkt nach einem toten Hund. Kinder
sitzen mit nacktem Hintern auf dem Unrat, auf dem Faeulnis alter Fruechte.
Auf dem Boden liegt die Ware, ich sehe sie noch heute: Bohnen und Erbsen,
Nuesse, Fruechte, die ich zum erstenmal sehe. " (Frisch 1992; 29)
Es sind die Impressionen eines rollenlosen, entindividualisierten
Ichs, (Lusser- Mertelsmann 1976: 62) das keine Vergangenheit und keine
Zukunft kennt. Diese gewissermassen zeitlose Existenzweise wird auch vom
Tagebuch-Ich uebernommen, das entgegen dem ueblichen Gebrauch seine
Eintragungen ohne Datum vornimmt. Wir koennen zwar den Fruehherbst 1952 als
Datum der Rueckkehr festlegen, erfahren aber nicht genau, wie lange die
Untersuchungshaft dauert.
Die Gegenwartsebene- die Monate der Untersuchungshaft, der
schweizerische Text - wird nun der durch Rueckwendung hereingeholten
Vergangenheitsebene gegenuebergestellt. Das 2. Heft holt dabei zeitlich am
weitesten aus, es beginnt mit dem Kennenlernen Stillers und Julikas kurz
nach seiner Ruckkehr aus Spanien und erzaehlt von da an die Geschichte
ihrer Ehe, jedoch nicht einfach chronologisch, sondern nach einer kurzen
Schilderung des Anfangs und der Probleme dieser Ehe springt der Bericht
sofort auf das Krisenjahr 1945 (das war vor etwa sieben Jahren - (Frisch
1992: 94). Dieses wird nun von Julikas Standpunkt aus ausfuehrlich
geschildert, dazwischen aber heisst es: Hier waere etwas nachzutragen
(Frisch 1992: 139), und nun erst erfahren wir Stillers Spanienerlebnis aus
dem Jahre 1935. Dies ist - mit Ausnahme einiger Kindheitserlebnisse, die
aber nicht in unmittelbarer Beziehung zur Handlung stehen - der frueheste
im Roman dargestellte Zeitpunkt. Die Gegenwart macht sich also immer wieder
bemerkbar, auch in den Rueckwendungen.
Die beiden anderen der Vergangenheit gewidmeten Hefte - 4 und 6 -haben
zwar eine einfachere Zeitstruktur, weil sie fast ausschliesslich vom Jahr
1945 handeln. Aber auch hier ist die Erzaehlung immer wieder durch
Einschuebe in der Gegenwart unterbrochen, nicht nur durch die bereits
erwaehnten Bemerkungen und Kommentare des Tagebuchschreibers, sondern auch
durch Ereignisse und Reflexionen in der Gegenwart. So heisst es im 4. Heft
ploetzlich: "Sibylle (die Frau meines Staatsanwalts) hat gestern kurz nach
Mitternacht ein beinahe siebenpfundiges Maedchen geboren" (Frisch 1992:
218), oder im 6. Heft: "Manner sind komisch!" findet Sibylle noch heute""
(Frisch 1992: 284), und nach dem Bericht, dass Sibylle sich in Le Havre
eingeschifft habe: "Mein Freund, der Staatsanwalt, meldet, dass die
Schlussverhandlung (mit Urteilsspruch) auf Dienstag in acht Tagen angesetzt
ist " (Frisch 1992: 308). Die Gegenwart bleibt also im Bewusstsein des
Lesers immer vorhanden. Karlheinz Braun kommentiert diesen Sachverhalt
folgendermassen: "Es ist deutlich, dass in diesen Heften die Vergangenheit
dominiert, doch Frisch macht von der Moeglichkeit, die momentane Gegenwart
aufleuchten zu lassen, so reichlich Gebrauch, dass sich hier Vergangenheit
und Gegenwart eigentuemlich vermischen" (Braun 1959: 78)
Das 7. Heft nimmt sowohl in der Erzaehlhaltung als auch in der
zeitlichen Struktur eine Sonderstellung ein. Es enthaelt zunaechst, ebenso
wie die anderen Hefte mit ungerader Numerierung, Erlebnisse im Gefaengnis,
also in der Gegenwartsebene: Besuch beim Zahnarzt, Gespraech mit dem
Staatsanwalt, Gang auf den Friedhof und Besuch von Freunden, gemischt mit
Reflexionen und Erinnerungen an Mexiko, die uebrigens wieder im zeitlosen
Praesens geschrieben sind. Danach folgt die Rueckwendung auf Stillers
Vergangenheit in der Ich-Form, beginnend mit den Worten: "Es ist ja nicht
wahr [...]" (Frisch 1992: 334). Schliesslich wird ein ganzer Tag im
Gefaengnis protokolliert, eingeleitet durch die Substantive mit zeitlicher
Bedeutung: 1. Der Vormittag, 2. Das Mittagessen, 3. Der Nachmittag. Diese
Protokolle werden immer ausfuehrlicher, der Bericht vom Nachmittag nimmt 23
Seiten ein (355-378). Hier naehert sich die Erzaehlzeit der erzaehlten
Zeit, so wie sich die White-Handlung der Stiller-Handlung naehert und
schliesslich mit ihr verschmilzt. Das Protokoll war bisher die Form, in der
die Vergangenheit Stillers dem Leser vermittelt wurde. Dass sie hier auf
die Gegenwartsebene, den Aufenthalt im Gefangnis, angewandt wird, ist ein
Zeichen dafuer, dass der Tagebuchschreiber White Stillers Vergangenheit als
die seinige uebernimmt. Das Gefuehl ein neuer, anderer Mensch zu sein, das
ihn auch jetzt nicht verlaesst, wird erst jetzt, unmittelbar vor der
Urteilsverkuendung, durch den Bericht von seinem Selbstmordversuch und die
daraus resultierende Empfindung einer Neugeburt begruendet. "Ich hatte die
bestimmte Empfindung erst jetzt geboren worden zu sein, und fuehlte mich
mit einer Unbedingtheit, die auch das Laecherliche nicht zu fuerchten hat,
bereit, niemand anders zu sein als der Mensch, als der ich eben geboren
worden bin, und kein anderes Leben zu suchen als dieses, das ich nicht von
mir werfen kann" (Frisch 1992: 381).
Dies ist die einzige Rueckwendung auf den Amerika-Aufenthalt, die
zeitlich datiert wird: "Vor etwa zwei Jahren versuchte ich, mir das Leben
zu nehmen "(Frisch 1992: 378).
Im Zusammenhang mit dem Gesagten, koennen wir zum Schluss kommen, dass
die Zeit im Roman auch als Element des Spieles fungiert. Das kann durch die
Tatsache bewiesen werden, dass die Zeitlosigkeit im amerikanischen Text als
Zeichen der Irrealitaet des dortigen Lebens fungiert und fuer die Schweiz
dagegen detailierte Zeitangaben typisch sind.
3. Die Stilebene
Nicht nur in raeumlich-zeitlicher Hinsicht lassen sich die Schweiz und
Amerika gegenueberstellen. Diese zwei Welten, zwei verschiedene
Realitaeten, werden auch auf der Stilebene miteinander konfrontiert. Das
gilt in erster Linie Landschaftsbeschreibungen. Nachstehend werden drei
Landschaftsschilderungen aus der sprachlicher Sicht analysiert und
verglichen.
Die erste ist die Beschreibung der Wueste in Mexiko. Hier arbeitet der
Erzaehler mit Anaphern: "Farben des gluehenden Mittags, Farben der
Daemmerung, Farben der unsaeglicher Nacht" (Frisch 1992: 26); mit
Wortwiederholungen: "Sand und Sand und wieder Sand" (Frisch 1992:26), vor
allem aber mit zahlreichen Vergleichen. Bei diesen Vergleichen faellt auf,
dass sie haeufig das Gesagte wieder einschraenken: "wie Orgelpfeifen oder
siebenarmige Leuchter, aber haushoch, […] nicht eigentlich gruen, eher
braeunlich wie Bernstein." (edg.: 26) Manchmal wird auch der poetische
wirkende Vergleich durch den prosaischeren ersetzt: "[…] wie mattes Gold
oder auch wie Knochenmehl" (ebd.) dadurch wird der gehobene Stil immer
wieder gebrochen. Ebenso heisst es am Schluss der Beschreibung der Wueste:
"Es erfuellte uns, ich erinnere mich, ein feierlicher Uebermut; kurz darauf
platzte der hintere Pneu" (Frisch 1992: 27)
Das eben beschriebene Stilmittel wird bei der zweiten grossen
Beschreibung, der New Yorks, noch haeufiger angewandt. Hier werden die
Vergleiche immer wieder praezieser; so heisst es: "[…] rot, nicht rot wie
Blut, rot wie die Spiegellichter in einem Glas voll roten Weines." (Frisch
1992: 315); "oder […] gelb, aber nicht gelb wie Honig, duenner, gelb wie
Whisky, gruenlich- gelb wie Schwefel […] " (Frisch 1992: 316) neben den
zahlreichen Vergleichen gibt es hier auch Metaphern: Teichen voll
Weissglut; Schwaden von buntem Nebel; Sterne ueber einer Sintflut von Neon-
Limonade; Teppiche, die aber gluehen […] usw. (Frisch 1992: 314)
Die Widerspruechlichkeit dieser Riesenstadt, die der Erzaehler eine
"Orgie der Disharmonie" nennt (Frisch 1992: 315), spiegelt sich auch in
antithetischen Figuren, die zwiespaeltige Gefuehle des Erzaehlers zum
Ausdruck bringen. "Menschen oder Termiten; Sinfonie und Limonade; sinnlich
und leblos zugleich; geistig und albern und gewaltig" (Frisch 1992. 316).
Lyrischer im Ton ist die dritte groessere Landschaftsbeschreibung
dieses Textes, die eine Landschaft in der Nahe von Zurich beinhaltet, wo
Stiller mit dem Staatsanwalt zu Mittag isst und wo er vor vielen Jahren mit
Julika war.
Da heisst es z. B.: "[...] die Zeit streicht wie eine unsichtbare
Gebaerde ueber die Range" (Frisch 1992: 351) oder "[...] eine blaeuliche
Geraeumigkeit fuellt die leeren Wipfel der Baeume, und wieder lodert das
Welken an den Hausmauern empor, klettert das letzte Laub in gluehender
Brunst der Vergaengnis" (Frisch 1992: 352). Hier dominiert nicht die
Beschreibung, sondern die durch die Landschaft ausgeloeste Erinnerung.
"Es muss an mir liegen… Nocheinmal ist alles da, die Wespen in der
Flasche, die Schatten im Kies, die goldene Stille der Vergaengnis, alles
wie verzaubert […]" (Frisch 1992: 349).
In der letzten Beschreibung dominiert nicht Stiller, sondern seine
Erinnerungen an Julika. In den ersten zwei Beschreibungen ist seine
erwuenschte Realitaet vorhanden, er geniesst dabei jede Einzelheit, weil
diese Schilderungen sein Inneres widerspiegeln und mit ihm identisch sind.
Es kann festgestellt werden, dass nicht nur in Opposition 'die Schweiz-
Amerika' sprachliche Mittel zur Entstehung und zum Zusammenspiel der
Realitaeten beitragen. Es gibt konkrete Griffe, die der Autor einsetzt, um
die Mehrschichtigkeit der Textwirklichkeit emporzuheben. Joachim Kaiser z.
B. hat auf die Bedeutung der Klammer aufmerksam gemacht, die typisch fur
Frischs Stil sei. (vgl. Kaiser 1971: 50) Auch im "Stiller" finden sich
zahlreiche Klammern (linguistisch gesehen sind das Parenthesen), so heisst
es zum Beispiel ueber Spanienerlebnisse, wo sich White Gedanken ueber
Stiller macht: "Seine Feuerprobe bestand er (vielmehr: er bestand sie eben
nicht!) vor Toledo, wo die Faschisten sich im Alcazar veschanzt hatten"
(Frisch 1992: 139) Oder: "Natuerlich ritt ich schon im Morgengrauen (in
einem grossen Bogen, damit man mir nicht auf die Spur kam) wieder zu meiner
Grotte" (Frisch 1992: 158)
"Jim traute meinen Schaetzungen nicht, dabei hat die spaetere
Erforschung jener Kavernen (die Touristen erreichen sie heutzutage von
Karlbad her, New Mexico, mit dem Bus) ganz andere Masse ergeben." (Frisch
1992: 163)
Die Klammer ergaenzt und praezisiert, hat einen Realitaetsbezug, aber
sie ironisiert und distanziert auch, weisst auf "fremde Realitaeten" hin,
nicht nur in den Protokollen des 2., 4. und 6. Heftes, wenn das
eingeschobene (so sagt er selbst), (so sagt Sibylle) usw. das Erzaehlte
immer wieder vom Erzaehler abrueckt, sondern auch im eigentlichen Tagebuch:
"So (ungefaehr) werde ich zu Frau Julika Stiller-Tschudy sprechen [... ]"
(Frisch 1992: 343).
Es lohnt sich auch auf ein weiteres Aspekt, naemlich auf den Gebrauch
von Helvetismen aufmerksam zu werden. Sie treten im Text als Bestandteile
einer der vorhandenen Realitaeten auf.
Walter Schenkers ausfuehrliche Untersuchung behandelt diesen
Teilaspekt, naemlich die Rolle, die die schweizerische Mundart in "Stiller"
spielt. Wenn naemlich Stiller in der Rolle Whites seine Schweizer Herkunft
verleugnet, so muss er darauf achten, keine Helvetismen in seine
Aufzeichnungen einfliessen zu lassen. Dies gilt natuerlich vor allem fuer
die Hefte 1, 3 und 5, waehrend die Hefte mit gerader Numerierung ja das
wiedergeben, was ihm andere erzaehlt haben sollen; hier besteht also kein
Grund schweizerische Redewendungen aengstlich zu vermeiden. So gebraucht er
z. B. im 2. Heft den Ausdruck Coiffeur, den Max Frisch nach Schenkers
Auskunft als typisch schweizerisch empfindet. (Schenker 1969: 55) Ebenso
heisst es im 2. Heft: "Kurz darauf erschien die Schwester, um sich zu
erkundigen, ob Frau Julika wirklich nicht zu kalt hatte" (Frisch 1992:
144). Der Ausdruck ich habe kalt statt hochdeutsch mir ist kalt ist
eindeutig schweizerisch. Eine aehnlich schweizerische Wendung ist: "Die
Sonne machte sehr warm" (Frisch 1992: 415), ein Ausdruck, den der
Staatsanwalt in seinem Nachwort benutzt.
Ob es allerdings White wirklich gelingt, das Tagebuch von Helvetismen
freizuhalten, ist fraglich. So schreibt er z. B.: "Es war keine
Kleinigkeit, die steifen Gladiolen einigermassen zu buscheln (Frisch 1992:
250). Das Wort buscheln empfindet auch Frisch nach Schenker als
mundartlich. (Schenker 1969: 91) Je weiter das Tagebuch fortschreitet,
desto weniger achtet der Schreiber darauf, keine Helvetismen zu gebrauchen;
als er im 7. Heft seine Vergangenheit durch den Gebrauch der ersten Person
als die seinige anerkennt, schreibt er z. B. wieder Coiffeur (Frisch 1992:
382) oder die Sonne gibt warm (Frisch 1992: 349).
Sprache und Stil im Allgemeinen sind vielmehr von der Problematik und
Struktur des Romans abhaengig, wobei sich die eigentuemliche Situation
ergibt, dass der Titelheld, der sich ja schriftlich und muendlich gut zu
artikulieren versteht, gerade dann verstummt, wenn es um seine
persoenlichste, existenzielle Erfahrung geht. Das kann zugleich als Signal
der Umschaltung der Realitaeten gelten. Je weiter sich Stiller von seinen
existenziellen Erfahrungen entfernt, desto leichter findet er Worte. So zum
Beispiel, wenn er Knobel beredt und farbig seine Abenteuer erzaehlt.
"Das ist es: ich habe keine Sprache fuer die Wirklichkeit", heisst es
unter PS bereits am Ende des 1. Heftes. Und nach Reflexionen ueber die
Frage, wer er in Wirklichkeit ist, schliesst der Tagebuchschreiber diesen
Abschnitt nochmals mit dem Satz: "Ich habe keine Sprache fuer meine
Wirklichkeit! (Frisch 1992: 84) "Jedes Wort ist falsch und wahr, das ist
das Wesen des Worts [...]" (Frisch 1992: 175), steht im 3. Heft, und
schliesslich reflektiert Stiller im 7. Heft im Zusammenhang mit dem Sinn
des Tagebuchs:
"Schreiben ist nicht Kommunikation mit Lesern, auch nicht
Kommunikation mit sich selbst, sondern Kommunikation mit dem
Unaussprechlichen. Je genauer man sich auszusprechen vermochte, um so
reiner erschiene das Unaussprechliche, das heisst die Wirklichkeit, die den
Schreiber bedraengt und bewegt. Wir haben die Sprache, um stumm zu werden.
" (Frisch 1992: 330). "Wer schweigt, ist nicht stumm. (Juergensen 1972: 99)
Wer schweigt, hat nicht einmal eine Ahnung, wer er nicht ist."
Das Verstummen, das in letzter Konsequenz zum Wechsel der
Erzaehlerperspektive fuehrt, setzt ein, nachdem er seine Vergangenheit als
die seine anerkannt und, wenn auch nicht ohne Zwang, seine Identitaet als
Stiller akzeptiert hat. (vgl. Schenker 1969: 116) Vielleicht deutet auch
der Name Stiller auf dieses Verstummen.
Sprache und Stil werden also fuer den Tagebuchschreiber von dem
Verhaeltnis bestimmt, in dem sich das Dargestellte zu seiner persoenlichen
Problematik befindet, Er weicht dort, wo die Sprache die unmittelbare
Erfahrung nicht ausdrueckt, ins Parabolische aus, sucht sich in Geschichten
und Traeumen, in Bildern und Vergleichen auszudruecken.
Schlussfolgerung
Im Rahmen der vorliegenden Diplomarbeit haben wir uns zum Ziel gesetzt
das Phaenomen des Zusammenspieles der Textrealitaeten im Roman "Stiller" zu
erlaeutern.
Im Zusammenhang mit dem gesetzten Ziel haben wir uns mit folgenden
Aufgaben auseinandergesetzt und sind zu folgenden Schluessen gekommen:
. Der Aufbau des Romans, die Form und Funktion des Tagebuches, deren
sich der Autor bedient, beeinflussen die Offenheit des Romans. Die
Autorenposition von Max Frisch, die im Roman zum Ausdruck kommt,
bawaegt den Leser zum Nachdenken und macht ihn zu einem
'Mitspieler'. Diese unvollendete literarische Form bewirkt, dass der
Autor dem Leser sein eigenes Bildnis nicht aufzwingt. Die knappe
Information, die der Leser beim Rezeptionsvorgang erhaelt, ergibt
Leerstellen, die er mit eigenen Assoziationen, Theorien und
Vermutungen fuellt. Die Perspektivierung der dargestellten
Ereignisse fuehrt unter anderem zu verschiedenen
Interpretationsmoeglichkeiten.
. Erzaehlsituation und Erzaehlhaltung, insbesondere ihre zahlreichen
Aenderungen im Rahmen des Erzaehlens, treten als Signale der
Umschaltung der Realitaeten auf.
. Das Fehlen der einheitlichen Textwirklichkeit, naemlich das
Phaenomen "Text im Text" und damit verbundene Erscheinung "virtuelle
Textwirklichkeit" sind wesentliche Merkmale des Zusammenspieles
zwischen Fakt und Fiktion. Die Mehrschichtigkeit der
Textwirklichkeit kommt in "Stiller" in solchen Textfragmenten wie
erzaehlte Geschichten, parabolische Geschichten, Traeume zum
Ausdruck. Diese Behauptung wird in der vorliegenden Arbeit unter
anderem durch die psychoanalytischen Theorien der Traumdeutung und
Belletristik von Sigmund Freud bestaetigt. Diesen Theorien zufolge
verarbeitet der Mensch ihm widerliche Wirklichkeit und ersetzt sie
durch eine neue, erwuenschte, indem er traeumt und Geschichten
erfindet. Mit anderen Worten, er vertauscht Realitaeten und spielt
mit ihnen. Indem der Tagebuchschreiber Fiktionen waehlt, um sich
auszudruecken, indem er Geschichten erzaehlt, mit anderen Worten
moegliche Beispiele gibt, fuer das, was ihm wiederfahren ist,
versucht er sich selbst zu erkennen.
( Die Gegenueberstellung 'die Schweiz- Amerika', die sich im
Rahmen des Forschungsthemas von der zeitlich- raeumlichen Perspektive
aus vollzieht, ist zusammen mit der Untersuchung der Sprache und des
Stils wesentlicher Bestandteil der analysierten Erscheinung des
Zusammenspiels der Textrealitaeten. Beim Vergleich des
'schweizerischen' und 'amerikanischen' Textes offenbaren sich
inhaltliche und sprachliche Instrumente und Signale, die die
Autorenabsicht veranschaulichen.
- Die raeumliche und geistige Enge der Schweiz wird mit dem Sinnbild
der Weite, mit Amerika konfrontiert. Das kommt durch die Wortwahl
zum Ausdruck, wobei fuer die Schweiz z. B. Epitheta wie "klein,
angemessen, genuegend" und fuer Amerika solche wie "gross,
gluehend, unsaeglich, bluehend" gewaehlt werden.
- Diese Tatsache widerspiegelt sich auch auf der Zeitebene, wo
Vergangenheit und Gegenwart ineinander verflochten bleiben. Dadurch
entstehen Brechungen, so dass sich Ereignisse gegeseitig spiegeln
und erhellen. Die amerikanische, bzw. mexikanische Ereignisse
werden meistens im Praesens beschrieben, was von gewisser
Zeitlosigkeit, mit anderen Worten Fiktion, des dortigen Lebens
zeugt. Im 'schweizerischen' Text bleibt die Vergangenheit und
Gegenwart miteinander vermischt, was die Tatsache zuspitzt, dass
der Tagebuchschreiber seine Vergangenheit nicht loswird.
- Sprache und Stil werden fuer den Tagebuchschreiber von dem
Verhaeltnis bestimmt, in dem sich das Dargestellte zu seiner
persoenlichen Problematik befindet, er weicht dort, wo die Sprache
die unmittelbare Erfahrung nicht ausdrueckt, ins Parabolische aus,
sucht sich in Geschichten und Traeumen, in Bildern und Vergleichen
auszudruecken.
Die Untersuchung, die im Rahmen der vorliegenden Forschungsarbeit
durchgefuehrt war, ist einer der Wege komplizierte Welt des Romans zu
beschreiben. Das Phaenomen des Zusammenspieles der Realitaeten hat
ausserdem mit der Beschreibung der obenerwaehnten Textfragmente noch nicht
sein Bewenden, denn der ganze Text basiert auf Wechselbeziehungen von
verschiedenen Perspektieven. Das kommt fast in jedem Satzt zum Ausdruck: in
Repliken, Beschreibungen von Gestalten, in der Wahl von Epitheta.
Das von uns gewaehlte Herangehen an die Analyse des Zusammenspiels der
Textrealitaeten im Rahmen eines fiktionalen Textes ist nur eines der
Verfahren die Autorenabsicht von Max Frisch zu verstehen.
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