Zusammenspiel der Realiatete als eines der Hauptprinzipien des Sujetaufbaus im Roman Stiller von Max Frisch
Zusammenspiel der Realiatete als eines der Hauptprinzipien des Sujetaufbaus im Roman Stiller von Max Frisch
Moskauer Staatliche Linquistische Universitaet
Lehrstuhl fuer Lexikologie
und Stilistik der deutschen Sprache
Diplomarbeit
Das Zusammenspiel der Realitaeten als eines der Hauptprinzipien des
Sujetaufbaus im Roman von Max Frisch "Stiller"
eingerichtet von Irina Sizikova
Moskau 2003
Inhaltsverzeichnis
Einleitung………………………………………………………………….3
Kapitel I. Der Roman "Stiller" im Schaffen von Max Frisch. Problematik und
Strukturelle Besonderheiten des Romans……………………………………………6
1. Max Frisch, Biographie, kurzer Ueberblick……………………………………6
2. Der Roman "Stiller im Schaffen von Max Frisch. Identitaetsproblematik in
"Stiller"? "Homo Faber", "Mein Name sei Gantenbein"……………………..8
3. Strukturelle Besonerheiten des Romans "Stiller" und die Haltung des
Erzaehlers im Roman…………………………………………………………...11
1. Aufbau des Romans ……………………………………………………………..13
2. Form und Funktion des Tagebuchs………………………………………………14
3. Erzaehlsituation und Erzaehlhaltung……………………………………………..16
Schlussfolgerung…………………………………………………………………….20
Kapitel II Zusammenspiel der Realitaeten………………………………………..22
1. Der Begriff der textwirklichkeit, Fiktionalitaet und Virtualitaet im
literarischen Text………………………………………………………………..22
2. Mehrschichtigkeit der Textwirklichkeit in "Stiller"…………………………27
1. Erzaehlte Geschichten……………………………………………………………29
2. Parabolische Geschichten………………………………………………………...32
3. Traeume…………………………………………………………………………..36
3. Der amerikanische und der schweizerische Text im Roman. Versuch einer
vergleichenden Analyse…………………………………………………………44
1. Die raeumliche Perspektive………………………………………………………46
2. Die zeitliche Perspektive…………………………………………………………48
3. Stilebene………………………………………………………………………….52
Schlussfolgerung………………………………………………………58
Literaturverzeichnis…………………………………………………..62
Einleitung
Das Anliegen der vorliegenden Forschungsarbeit besteht darin, das
Phaenomen des Zusammenspiels der Textrealitaeten im Roman "Stiller" zu
erlaeutern. Der Roman zeichnet sich durch komplizierten Aufbau, Fehlen der
einheitlichen Erzaehlperspektive aus, was die Rezeption des Werkes fuer den
Leser zu keiner einfachen Aufgabe macht.
Das veranlasste uns die Textwirklichkeit zu erforschen und uns mit dem
Zusammenspiel verschiedener Textschichten auseinanderzusetzen.
Die Textwirklichkeit des Romas stellt in sich keine Ganzheit dar. Sie
besteht aus vielen 'Kaestchen', die in die Hauptkonstruktion eingebaut
sind. Viele Sprachwissenschaftler setzten sich mit diesem Textphaenomen
auseinander (Padu?eva 1996; Lotman 1970; 1981; Hamburger 1977; 1979; Rudnev
1996 und andere).
Es handelt sich dabei um autonome Textteile wie Traum, erlebte Rede,
Luege, Erzaehlung in der Ezaehlung und aehnliche Erscheinungen, die in das
Textganze eingebettet sind. Im Rahmen der vorliegenden Forschung sind diese
Textfragmente in der Hinsicht von Interesse, dass ihre Wechselbeziehungen
und Gegenueberstellung zum wesentlichen Element des Zusammenspieles der
Realitaeten wird.
Das Objekt der Forschung ist der Roman von Max Frisch "Stiller". Als
Gegenstand der Forschung treten Mittel und Instrumente auf, die zu Signalen
der Umschaltung und des Spieles zwischen Fakt und Fiktion werden.
Das sind unter anderem:
( Traeume
( Die vom Protagonisten erzaehlten Geschichten
( Die zeitliche und raeumliche Perspektive im Roman
( Sprache und Stil
Die vorliegende Arbeit setzt sich dementsprechend zum Ziel moegliche
Wechselbeziehungen zwischen Realitaeten im Rahmen eines fiktionalen Textes
am Beispiel des Romans von Max Frisch "Stiller" zu erlaeutern.
Damit dieses Ziel erreicht wird, sind folgende Aufgaben im Rahmen
dieser Forschung zu loesen:
( Architektonik, Erzaehlhaltung, Mehrschichtigkeit des Textganzen,
somit Aufbau und Tagebuchform zu beschreiben
( Den Einfluss dieser Faktoren auf den Effekt des Zusammenspiels
der Textrealitaeten zu betrachten
(Einige Mechanismen des Zusammenspieles der Realitaeten zu
erforschen und konkrete Mittel auszusondern, die vom Autor eingesetzt
sind, um diesen Effekt zu schaffen.
Das Ziel und Aufgaben haben das Forschungsverfahren bestimmt. Das ist:
(Die Kontexteanalyse
(Analyse der mikro- und makrostilistischen Kategorien
(Vergleichende Analyse der Textfragmente
Die Struktur der Arbeit ist von gesetzten Zielen und Aufgaben
gepraegt. Die vorliegende Diplomarbeit besteht aus einer Einleitung, zwei
Kapiteln, einer Zusammenfassung und einer Bibliographie.
Die Einleitung ist vorwiegend dem Forschungsthema, den gesetzten
Zielen und Aufgaben gewidmet.
Das erste Kapitel handelt von der Position, die der Roman im Schaffen
von Max Frisch einnimmt, und vom Thema, das der Roman beinhaltet. Ausserdem
wird in diesem Kapitel der Begriff "Offenheit" des literarischen Textes
erlaeutert und es wird bewiesen, dass diese Erscheinung nachstehend den
Aufbau und die Form des Romans praegt. Von Bedeutung ist in diesem Teil
auch die Erklaerung des Begriffs "Erzaehlsituation".
Das zweite Kapitel ist dem Phaenomen "Zusammenspiel der Realitaeten"
gewidmet.
Im Laufe der Forschung wird aus zwei Sichten gezeigt, welche Mittel
und Instrumente zum Effekt des Zusammenspieles beibringen.
In diesem Kapitel werden solche Erscheinung wie "Text im Text" und
"virtuelle Textwirklichkeit" untersucht.
Das Miteinbeziehen von der freudschen Theorie der Traumdeutung und
Belletristik setzt sich zum Ziel in diesem Teil der Forschung die Analyse
durchsichtiger zu machen.
Im Rahmen des Forschungsthemas werden zwei im Roman dargestellte
"Welten" gegenuebergestellt und es wird bewiesen, wie die Opposition 'die
Schweiz- Amerika' zum Instrument des Zusammenspieles wird.
Dabei werden zeitliche und raeumliche Perspektive, Sprache und Stil
der Beschreibung dieser zwei Laender miteinander verglichen und einander
gegenuebergestellt.
In der Zusammenfassung werden Schlussfolgerungen gezogen.
I. Der Roman "Stiller" im Schaffen von Max Frisch. Problematik und
strukturelleBesonderheiten des Romans
1. Max Frisch, Biographie. Kurzer Ueberblick
Max Frisch wurde am 15. Mai 1911 in Zuerich als Sohn eines Architekten
geboren. Auf Draengen seines Vaters hin, begann er 1931 nach dem Abitur in
seiner Heimatstadt ein Studium der Germanistik. Aus finanziellen Gruenden
mußte er zwei Jahre spaeter, nach dem Tod seines Vaters das Studium
abbrechen und arbeitete als freier Journalist. Im Rahmen dieser Taetigkeit
fuehrten ihn Reisen in die Tschechoslowakei, nach Polen, Frankreich,
Bosnien, Griechenland und schließlich bis ans Schwarze Meer und nach
Konstantinopel. 1934 entsteht sein erster, von der Balkanreise inspirierter
Roman "Juerg Reinhart. Eine sommerliche Schicksalsfahrt". Nach seinen
ersten schriftstellerischen Versuchen geraet Frisch in Selbstzweifel, er
entschliesst sich mit Schreiben aufzuhoeren und verbrennt alle bis dahin
entstandenen Manuskripte.
1936 beginnt Frisch, nachdem er auf Draengen seiner Verlobten den
Journalismus aufgegeben hatte, ein Architekturstudium. Erst 1939 faengt der
nunmehrige Frisch wieder an zu schreiben. 1940 Veroeffentlichung von
"Blaetter aus dem Brotsack. Tagebuch eines Kanoniers" in dem er seine
Erfahrungen im Militaerdienst waehrend des Kriegsbeginns verarbeitet. 1942
erhaelt er das Architektendiplom (baut u.a. das Letzigraben Schwimmbad). Er
heiratet nun Constanze von Meyenburg und eroeffnet mit ihr zusammen ein
Architektenbuero in Zuerich. Die Ehe mit Constanze wird 1959 nach laengerer
Trennung wieder geschieden. Fortan arbeitet Frisch im Doppelberuf als
Architekt und Schriftsteller. In der Zeitperiode von 1946 bis 1951 verfasst
Frisch Dramen, die die aktuelle Nachkriegszeit teils thematisieren, teils
verfremden: "Nun singen sie wieder"(1946), "Die Chinesische Mauer"
(1947), "Graf Oedland" (1951).
Frisch unternimmt weiter inspirierende Reisen (z.B.Prag, Berlin,
spaeter auch die USA, Japan), trifft unter anderem Berthold Brecht, der ihn
sehr beeinflußte und Peter Suhrkamp (Verlag eroeffnete mit Frischs Werk
"Tagebuch 1946-1949"). Der endgueltige literarische Durchbruch gelingt ihm
1954 mit "Stiller". Das Buch wurde in etliche Fremdsprachen uebersetzt und
brachte dem Autor den "Wilhelm- Raabe- Preis" der Stadt Braunschweig 1955,
den "Schiller-Preis" der Schweizer Schillerstiftung 1955 sowie den "Welti-
Preis fuer das Drama" der Stadt Bern 1956.
Der nun unabhaengig gewordene Frisch wechselt haeufig den Wohnsitz,
z.B. Berlin, New York, Tessin, kommt aber immer wieder zurueck nach
Zuerich. Mit der Urauffuehrung des Dramas "Herr Biedermann und die
Brandstifter" im Zuericher Schauspielhaus erringt Frisch seinen ersten
Buehnenerfolg und wird kurz darauf mit dem Georg-Buechner-Preis
ausgezeichnet. In den 60er Jahren gewinnt Frisch wieder mehr Popularitaet
(nach der Entstehung seiner bedeutensten Werke), hauptsaechlich durch
Fernsehauftritte, zahlreiche Literaturpreise und seinem ersten großen
internationalen Buehnenerfolg "Andorra". Das Stueck behandelt das Thema
Rassismus unter der Problematik des Gebots "Du sollst Dir kein Bildnis
machen".
In den 70ern engagiert sich Frisch nun politisch, z.B. als Redner auf
einem Parteitag von der SPD, reist als Begleiter der Delegation des
damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt nach China, nimmt mit F.
Duerrenmatt am Friedenskongress teil. Gegenlaeufig dazu findet er
schriftstellerisch nicht mehr so großen Anklang. Er stirbt im Alter von 80
Jahren am 5.April 1991 in Zuerich, wo er auch geboren ist. Frisch erhielt
ungewoehnlich viele Preise z.B. Friedenspreis des deutschen Buchhandels,
Schiller Preis von Baden Wuertenberg, Preis der jungen Generation fuer
"Andorra" und andere mehr.
2. Der Roman "Stiller" im Schaffen von Max Frisch.
Identitaetsproblematik in "Stiller", "Homo faber", "Mein Name sei
Gantenbein"
Die Helden in Max Frischs Werken leiden permanent am eigenen Ich. Max
Frisch selbst bezeichnete die zentrale Stellung der Identitaetsfrage und
die damit zusammenhaengende Rollenhaftigkeit des Daseins, den Ich-Verlust
und die Selbstwahl als sein ,"Warenzeichen". So will der Bildhauer Anatol
Stiller, die Titelgestalt des ersten der bedeutenden Romane (1954), ein
neuer Mensch mit neuer Identitaet werden und so frueherem Versagen als
Kaempfer auf der Seite der spanischen Republik, als Ehemann und als
Kuenstler entfliehen.
Im zweiten der namhaften Romane, "Homo Faber" (1957), geht Frisch von
entgegengesetzter Position ans Werk. Walter Faber, Techniker und Ingenieur,
moechte an seinem technisierten Weltbild, in dem Schicksal und Gefuehle
keinen Raum finden, festhalten. Aber er verstrickt sich immer mehr in
unwahrscheinliche Zufaelle und irrationale Liebesempfindungen. Auf der
Suche nach Erlebnissen, die ihn in seiner Position staerken koennten
(glaubt selbst nicht mehr an Rollenhaftigkeit), holt ihn schließlich seine
eigene Vergangenheit ein: Auf den Spuren seiner Geliebten und eigenen
Tochter, Sabeth, begegnet er der Welt, die er verlachte und kehrt wie
Stiller zum Ursprung zurueck: auch er ist am Ende ein Moerder, auch er
allein. Bereits auf den ersten Seiten wird angesprochen: "Ich glaube nicht
an Fuegung und Schicksal. Ich bin Techniker und gewohnt, die Dinge zu
sehen, wie sie sind. Ich weigere mich Angst zu haben." (Faber spielt die
Rolle des Technikers konsequent aus).
In "Mein Name sei Gantenbein" (1964) steht die Verwandlung des Lebens
in Geschichten im Mittelpunkt. Zu Beginn des Romans montiert der Ich-
Erzaehler die Figur aus dem Koerper eines Mannes aus Paris und dem Kopf
eines Amerikaners zusammen, sie erhaelt den Namen Gantenbein. Mit der immer
wiederkehrenden Formel "Ich stelle mir vor" (sowie auch Stiller mit "Ich
erzaehle ihm eine Geschichte") probiert Gantenbein nun unablaessig
Geschichten wie Kleider aus, wobei immer wieder nur eine vorgestellte Welt
zugelassen wird. Der Titelfigur bleibt kaum mehr eigene Individualitaet,
deshalb bleibt ihr nur das Spiel mit Existenzen, dem Ausprobieren seiner
Selbst.
"Stiller" entstand im Jahre 1953 und wurde ein Jahr spaeter
veroeffentlicht. Als der Roman erschien, hatte Max Frisch vor allem als
Theaterautor einen Namen. In kurzer Zeit erreichte der Roman als erstes
Buch des Suhrkamp-Verlages eine Millionenauflage.
In einem Gespraech mit Horst Bienek sagte Frisch zur Entstehung:
" Ich war ein Jahr in Amerika, und da ich ein Stipendium hatte, meinte
ich fleissig sein zu muessen. Ich schrieb sechshundert Seiten, die
misslangen. Eines Tages, zuhause, tippte ich wie oefters, wenn ich mich
langweilte und mich unterhalten muss, ein paar Seiten. Ziellos, frei von
dem beklemmenden Gefuehl, einen Einfall zu haben. Nichts geht leichter
zugrunde, als ein Einfall, der sich selbst erkennt! Das blieben die ersten
Seiten vom "Stiller", unveraendert; das Material, das ich zum Weitertippen
brauchte, stahl ich aus den sechshundert misslungenen Seiten
ruecksichtslos, so dass das Buch nach dreiviertel Jahren fertig war. "
(Bienek 1969:21)
"Ich bin nicht Stiller" lautet die unerhoerte Aeußerung des Helden mit
der der Roman einsetzt. Um die Schatten der eigenen Nichtigkeit
loszuwerden, unternimmt er den Versuch nach langer Abwesenheit unerkannt
und verwandelt in die Heimat zurueckzukehren, doch dies schlaegt fehl.
Spaeter kommt der Symbolgehalt des Namens Stiller zum Ausdruck. Auf einem
Landgut fristet Stiller sein Dasein: verstummt, zurueckgezogen, allein.
Der Roman ist in zwei Hauptteile untergegliedert, von denen der erste
Teil die "Aufzeichnungen im Gefaengnis" und die zweite Teil das
"Schlusswort des Staatsanwalts" beinhaltet.
Die Handlung findet im architektonischen Aufbau des Romans ihre
Entsprechung. Die zwei Handlungsstraenge ('White-und Stillerhandlung')
fuehren am Ende zusammen, denn die Doppelidentitaet Stiller/ White wird zu
einer Einheit. Noch weigert sich White Stiller zu sein:
"[…]; abermals vergleicht er Zahn um Zahn, wobei sich zeigt, dass
Stiller, der verschollene Kunde seines verstrorbenen Onkels, beispielsweise
ueber einen tadellosen Achter-oben-rechts verfuegt haben muss; bei mir ist
es eine Luecke." (Frisch 1992: 318)
Dann spricht er jedoch das erste Mal von Stiller in der Ich- Form und
gibt schliesslich zu, Stiller zu sein.
"Das Urteil, das gerichtliche, wie erwartet: Ich bin (fuer sie)
identisch mit dem seit sechs Jahren, neun Monaten und einundzwanzig Tagen
verschollenen Anatol Ludwig Stiller[…]" (Frisch 1992: 381)
"Wielfried Stiller, mein Bruder, habe sich bereits erklaert, den
Betrag von Franken 9 361. 05 zu uebernehmen." (Frisch 1992: 383)
Max Frisch sagte so ueber sich selbst: Er sei ein defensiver, ein
reagierender Schriftsteller. Er erfindet nicht Geschichten, um die Welt zu
veraendern, sondern stellt die Welt dar, wie er sie erfahren hat, ohne den
moralischen Anspruch zu erheben, Loesungen und Vorschlaege zum Bessermachen
aufzuzeigen. Im Grunde sei er ein hilfloser Schriftsteller, der schreibt um
zu bestehen, nicht um zu belehren und waere vielleicht am gluecklichsten,
wuerde ihm ein Aufweichen seiner Problemwelt gelingen. Aus seiner Haltung
als Schriftsteller resultiert auch die Erzaehlhaltung in seinen Romanen.
.
3. Strukturelle Besonderheiten des Romans "Stiller" und die Haltung
des Erzaehlers im Roman
Literatur entsteht immer in einer "Partnerbeziehung" zwischen Autor
und Leser, weshalb der jeweilige Text in jedem Leser neu entstehen soll.
Frisch gibt keine fertigen Antworten und macht deshalb auf das
Problem des Offensichtlichen aufmerksam: "...alles sagen bedeutet ein
Entfernen". Das Offene in der Reproduzierbarkeit beim Konsumieren eines
Textes muß gewaehrleistet bleiben, sonst bleibt die Gefahr, daß man das
"Geheimnis zerschlaegt". Die schriftstellerische Form sollte deshalb eine
"stofflose Oberflaeche" bleiben, die es letztlich nur fuer den Geist geben
kann.
In seinem Aufsatz "Zwischen Autor und Text" betont Umberto Eco unter
anderem, dass der Autor zwar der Urheber des Textes ist, aber der Text ist
nach seiner Entstehung autonom, so dass es Unterschiede zwischen der
Absicht des Autors und der Textintention geben kann. Ueber sich selbst als
Autor sagt Eco: "Das Geschriebene hat sich von mir abgeloest und fuehrt ein
Eigenleben." (Eco 1992: 91). Mit dieser Behauptung verweisst der
Wissenschaftler auf den Aspekt der Offenheit, die das literarische Werk
hinsichtlich der Moeglichkeiten der Entwicklung seiner Handlung aufweisst.
Das trifft auch die Autorenposition von Max Frisch. Ein Buch ist fuer
ihn nur dann lesenswert, wenn es ausreichend Platz fuer den Reichtum der
eigenen Gedanken laeßt. Dieser Gedanke ist verknuepft mit Frischs Abneigung
gegen die vollendeten Formen in der Literatur bzw. mit seinem eigenen Weg
der Skizzen, Tagebuecher, Berichte. In einer skizzenhaften, unvollendeten
Form eines literarischen Textes ist die Gefahr, daß der Autor dem Leser die
eigene Reproduktion durch allzu offensichtliche Vollendung vorenthaelt, und
ihm dadurch sein eigenes Bildnis aufzwingt, am geringsten. Die Skizze soll
nach Frisch nur die Richtung aufzeigen, nicht aber das Ende.
Die von Frisch im "Stiller" gewaehlte Form des Erzaehlens bewirkt,
dass der Leser einen sehr eingeschraenkten Blickwinkel hat. Daher muss er
sich automatisch mehr Gedanken machen, um von der ersten Seite des Buches
an den unbekannten Faden zu spinnen und Verbindungen zwischen den
Erlebnissen Stillers zu knuepfen. Die knappe Information, die der Leser
beim Rezeptionsvorgang erhaelt, ergibt Leerstellen, die er mit eigenen
Assoziationen, Theorien und Vermutungen fuellt, welche jedoch auch
zerstoert werden und zu neuen Ueberlegungen veranlassen. Durch die
gewaehlte Romanform wird der Leser aktiv, er muss sich permanent mit dem
wechselhaften Erzaehlvorgang auseinandersetzen. Die multiperspektivische
Darstellung der Personen und Charaktere fuehrt zu vielseitigen
Moeglichkeiten der Interpretation. Der Leser muss sich sein eigenes Bild
machen, in dem er sich kritisch und distanziert mit dem Erzaehler und
dessen Eigenarten auseinandersetzt.
Die Offenheit der Struktur des Romans macht den modernen Roman, so wie
ihn Max Frisch entstehen laesst, ueberhaupt moeglich. Das Losgeloestsein
von einer konventionellen Romanform laesst den Leser unvoreingenommen dem
Werk entgegentreten und in eine neuartige Moeglichkeit des
Rezeptionsvorgangs eintauchen.
Gerade durch diese Einstellung des Autors zu seinen Werken sind in
bedeutendem Ausmass einige Besonderheiten der Architektonik des Romans zu
erklaeren, solche wie Erzaehlhaltung, Aufbau und Tagebuchform,
Mehrschichtigkeit der Textwirklichkeit.
3.1 Aufbau des Romans
Die Form dieses Romans, seine Struktur und seine
Erzaehlperspektive sind haeufig bewundert worden, so von Friedrich
Duerrenmatt in seinem "Fragment einer Kritik" und von Walter Jens. Eine
genaue Untersuchung hat Karlheinz Braun vorgenommen.
Ich möchte zunaechst den ausseren Aufbau des Romans betrachten.
Das Buch besteht aus zwei ungleichen Teilen, deren erster, weitaus
umfangreicherer, Stillers Aufzeichnungen im Gefangnis umfasst, waehrend
der zweite das Nachwort des Staatsanwalts enthaelt. Die Aufzeichnungen
im Gefangnis sind wiederum in sieben Hefte gegliedert, deren Umfang im
Durchschnitt etwa dem Nachwort des Staatsanwalts entspricht.
Die sieben Hefte des ersten Teils scheinen auf den ersten Blick
mit den verschiedensten Elementen gefuellt zu sein: Lange Rueckblenden
stehen neben Gegenwartserlebnissen im Gefaengnis und an den
Kautionsnachmittagen, die Knobel erzaehlten Abenteuer neben den
parabolischen Geschichten, Gespraeche mit Besuchern, Verteidiger und
Staatsanwalt neben Traeumen und Reflexionen des Tagebuchschreibers.
Eine genauere Analyse zeigt aber, wie kunstvoll diese scheinbar
zufaellig nebeneinander stehenden Teile zusammengefuegt, neben- und
gegeneinander montiert sind, so dass sie sich gegenseitig ergaenzen und
spiegeln.
Sie folgen aufeinander nach folgendem Prinzip: Die in Ichform
gehaltenen Erlebnisse des Haeftlings White wechseln alternierend mit
dem, was er nach Erzaehlungen anderer (Julikas, Rolfs und Sibylles) zu
protokollieren vorgibt. So fuellt die Darstellung der Ehe Stillers und
Julikas das zweite umfangreichste Heft der Aufzeichnungen, die Ehe
zwischen Rolf und Sibylle, in der Stiller ja als Sibylles Liebhaber
aufgetaucht ist, das vierte, die Liebesgeschichte zwischen Sibylle und
Stiller das sechste Heft.
Diese drei Hefte sind also fast ausschliesslich der Vergangenheit
gewidmet, sie enthalten die Stiller-Handlung. Hefte 1,3 und 5 dagegen
geben die Erlebnisse und Gedanken Whites im Gefangnis und in Amerika
wieder; diese Hefte stellen die White-Handlung dar. Die
Identitaetsspaltung zwischen White und Stiller findet in dieser
Struktur ihre genaue Entsprechung.
Eine Sonderstellung nimmt das siebente Heft ein: Der
Tagebuchschreiber weigert sich zwar noch immer Stiller zu sein,
berichtet aber andererseits zum ersten Male von Stillers Erlebnissen in
der Ichform. (vgl. Frisch 1992: 334) Am Ende des siebenten Buches sind
mit dem Urteilsspruch White und Stiller identisch geworden, beide
Handlungsstraenge sind ineinander geflossen. Es ist also auch formal
konsequent, dass hier die Tagebuchform aufhoert und ein neuer Erzaehler
zu Worte kommt.
3.2 Form und Funktion des Tagebuchs
Max Frisch bedient sich der Tagebuchform. Diese Form findet sich
haeufig bei Frisch, angefangen von den "Blaettern aus dem Brotsack" bis
hin zu "Montauk". Die beiden "Tagebuecher 1946-1949 und 1966-1971"
gehoeren zu seinem schriftstellerischen Werk nicht weniger als seine
Romane, doch ist die Art und Funktion dieser Form nicht ueberall die
gleiche.
Auf die Besonderheit und Funktion der Tagebuchform im Roman
"Stiller" moechte ich eingehen.
Vom Tagebuch kann man, genau genommen, nur in den Heften mit
ungerader Numerierung sprechen. Dort sind Erlebnisse und Gedanken des
Untersuchungshaeftlings festgehalten, er schreibt in der ersten Person
und meist in der Gegenwart. Die eingeflochtenen Geschichten und die
Knobel und dem Verteidiger erzaehlten Amerika-Erlebnisse ueberschreiten
eigentlich schon den Charakter des Tagebuchs; sie enthalten
Rueckwendungen, die dazu bestimmt sind, fuer Mr. White eine
Vergangenheit aufzuzeigen. Das Ich, das hier von sich spricht, ist nur
eine Fiktion; nur die in der dritten Person gehaltenen Protokolle
beschaeftigen sich mit dem 'eigentlichen' Ich, dem Titelhelden des
Buches.
Die Form des Tagebuchs ist also hier, wie Duerrenmatt
festgestellt hat, "die eines fingierten Tagebuchs einer fingierten
Personlichkeit, die damit die Behauptung aufrechterhalten will, sie sei
nicht eine andere" (Duerrenmatt 1971: 11).
Das trifft allerdings nur auf die ersten Hefte zu. Im Schreiben
veraendert sich der Tagebuchschreiber, er setzt sich mit der Rolle
auseinander, die er einst gespielt hat und die ihm seine Umgebung
wieder aufdraengen will. Kurz bevor er in Ichform von Stillers
Vergangenheit schreibt, definiert er die Funktion des Schreibers fuer
sich selbst folgendermassen:
"Kann man schreiben, ohne eine Rolle zu spielen? Man will sich
selbst ein Fremder sein. Nicht in der Rolle, wohl aber in der
unbewussten Entscheidung, welche Art von Rolle ich mir zuschreibe,
liegt meine Wirklichkeit. Zuweilen habe ich das Gefuehl, man gehe aus
dem Geschriebenen hervor wie eine Schlange aus ihrer Haut. Das ist es;
man kann sich nicht niederschreiben, man kann sich nur haeuten" (Frisch
1992: 330).
Erst der Prozess der Selbstbesinnung durch das Tagebuch macht
Stiller reif fuer seine 'neue Haut', fuer die erste Stufe der
Selbstannahme. Aehnlich definiert Frisch im "Tagebuch 1945-1949" die
Funktion des Tagebuchs fuer den Schreibenden:
"Indem man es nicht verschweigt, sondern aufschreibt, bekennt man sich
zu seinem Denken, das bestenfalls fuer den Augenblick und fuer den Standort
stimmt, da es sich erzeugt. Man rechnet nicht mit der Hoffnung, dass man
uebermorgen, wenn man das Gegenteil denkt, klueger sei. Man ist, was man
ist. Man haelt die Feder hin, wie eine Nadel in der Erdbebenwarte, und
eigentlich sind nicht wir es, die schreiben; sondern wir werden
geschrieben. Schreiben heisst: sich selber lesen" (Frisch 1950: 22).
3.3 Erzaehlsituation und Erzaehlhaltung
Die besondere Art und Form des Tagebuchs im "Stiller" laesst sich
erst ganz verstehen, wenn die Erzaehlsituation und Erzaehlhaltung
genauer untersucht werden. Die Erzaehlsituation ist bestimmt durch
Stillers Aufenthalt im Gefaengnis.Die Isolation im
Untersuchungsgefaengnis zwingt Stiller zum Schreiben, andererseits ist
es aber die Konfrontation mit der Ehefrau, Feinden, dem Verteitiger und
Staatsanwalt, die auch fuer Wahrheitsermittlung notwendig ist. Diese
Situation ist besonders geeignet fuer die dem Ich-Roman eigene
Gewissenserforschung
(vgl. Stanzel 1964: 31), fuer die Darstellung des Identitaetsproblems.
Nach Stanzels Romantheorie ist "Stiller" am ehesten der Kategorie
der Ich- Erzaehlhaltung zuzuordnen. Bei dieser Erzaehlsituation
dominiert das berichtende Erzaehlen durch eine Erzaehlerfigur und die
Innensicht auf das Figurenbewusstsein. Unter der Kategorie "Person" ist
diese Erzaehlsituation immer mit einem Erzaehler in der Ich-Form
verbunden. Da aber auch ein auktorialer Erzaehler durchaus "Ich" sagen
kann, muss eine Abgrenzung vorgenommen werden: In der Ich-
Erzaehlsituation bezeichnet die erste Person Singular sowohl den
Erzaehler als auch eine Handlungsfigur, der Erzaehler und die Figur
gehoeren also dem selben Seinsbereich an.
Die Ich-Erzaehlsituation vereint mehrere, scheinbar
widerspruechliche Aspekte: zum einen scheint die "epische Distanz"
vollstaendig aufgehoben zu sein, steht der Erzaehler doch als ein
Handelnder mitten im Geschehen. Zum anderen aber ist dieselbe Distanz
geradezu konstituierend fuer ihn, da er doch nur erzaehlen kann, was
zeitlich schon vergangen ist. Wie man sieht, ist der Ich-Erzaehler eine
"gespaltene Persoenlichkeit", deren eine Seite als "erlebendes Ich",
die andere als "erzaehlendes Ich" bezeichnet wird. Diese Aufteilung
erlaubt es ihm auf der einen Seite, sehr authentisch und unmittelbar
ueber sein Innenleben zu reflektieren. Doch ist diese Moeglichkeit zur
ausgiebigen Introspektion durch ein sehr enges Blickfeld - eben nur das
seine - erkauft, das erfordert, andere Figuren lediglich von aussen zu
beschreiben. Eine gewisse Naehe zur personalen Erzaehlsituation liegt
hier auf der Hand. Auf der anderen Seite aber erzaehlt er seine
Geschichte - haeufig sein Leben oder doch wenigstens Episoden daraus -
aus einem mehr oder weniger grossen zeitlichen Abstand. Das befaehigt
ihn, kommentierend und wertend, zuweilen reuevoll, auf sein Leben
zurueckzublicken, was seine Perspektive wiederum an die des auktorialen
Erzaehlers annaehert.
Als Stiller das Gefangnis verlaesst, aendert sich mit der
Situation auch die Erzaehlhaltung, ein anderer uebernimmt die
Vermittlung der folgenden Ereignisse. Aber der erste Teil ist kein
reiner Ich-Roman. Es ist nicht so, wie es Walter Jens als eine
Moeglichkeit beschrieben hat, von der der Autor keinen Gebrauch gemacht
hat: "Anatol Stiller sitzt an seinem Zellen-Tisch, haelt Rueckschau und
konfrontiert die Begebenheiten von heute - Ausgang und
Gefaengnisbesuche - mit den Ereignissen von gestern" (Jens 1971: 17).
Der, der die Aufzeichnungen niederschreibt, behauptet ja gerade, nicht
Anatol Stiller zu sein. Wenn er ich schreibt, so meint er nicht
Stiller, sondern den Untersuchungsgefangenen White. Diesem hat der
Verteidiger ein Heft gegeben, in dem er sein Leben aufschreiben soll,
wohl um zu beweisen, dass ich eines habe [...], wie er ironisch
anmerkt. (Frisch 1992: 9)
An Stelle eines Lebensberichtes verfasst er jedoch ein Tagebuch,
das neben seinen Erlebnissen im Gefaengnis und einigen wenig
glaubhaften Geschichten aus Amerika nichts ueber sein frueheres Leben
enthaelt, was in Ich-Form berichtet wuerde. Das Tagebuch-Ich erweist
sich als ein Ich ohne Geschichte.
"Das Ich vermag sich offenbar allein als ein gegenwaertiges zu
dokumentieren" (Steinmetz 1973: 36), denn es existiert - genau genommen
- erst seit zwei Jahren, seit dem Selbstmordversuch. Eine Geschichte
hat nur der verschollene Stiller aufzuweisen, ueber den aber gerade
nicht in der ersten, sondern stets in der dritten Person berichtet
wird, der also bis zum 7. Heft hin nie als Ich-Erzaehler in Erscheinung
tritt.
"Das Ich wird ein Objekt", wie Duerrenmatt sagt (Duerrenmatt
1971: 12), es wird von aussen, in der dritten Person, beschrieben, so
wie die anderen es sehen. Es vermittelt dem Leser das Bild Stillers in
den Augen der anderen, jenes Bild, vor dem er gerade geflohen ist.
Die Erzaehlhaltung ist also doppelt gebrochen, einmal wird vom
Roman-Ich in der dritten Person gesprochen, andererseits werden diese
Er-Berichte wiederum durch den Ich-Erzaehler vermittelt, der mit der
dargestellten Person identisch ist. Die Spannung zwischen erzaehlendem
und erlebendem Ich, die einen Reiz des Ich-Romans ausmacht, wird hier
noch gesteigert. Der Ich-Erzaehler bringt sich dem Leser immer wieder
in Erinnerung; obwohl er beteuert: "Ich will aber versuchen, in diesen
Heften nichts anderes zu tun als zu protokollieren, was Frau Julika
Stiller-Tschudy [...] mir oder meinem Verteidiger von ihrer Ehe selber
erzaehlt hat" (Frisch 1992: 90), schimmert seine innere Beteiligung an
den Vorgaengen von Anfang an durch.
Da gibt es einmal neutrale Einfuegungen wie ich protokolliere
[...], scheint es [...], offenbar [...], so sagt er [...], so meint
mein Staatsanwalt [...], so sagt Sibylle usw., die den Redefluss nur
kurz unterbrechen. Daneben stehen scheinbar distanzierende Kommentare
wie Als Fremder hat man den Eindruck (Frisch 1992: 89), es liegt mir
sonst wenig daran, mit dem Verschollenen einig zu sein (Frisch 1992:
100) oder Wieso ist er eigentlich so offen zu mir? (Frisch 1992: 222).
Im zweiten Teil haben wir wiederum einen Ich-Erzaehler, der aber
nicht im Mittelpunkt, sondern am Rande des Geschehens steht. Franz
Stanzel nennt diese Erscheinung "Retrospektive mit Randstellung des Ich-
Erzaehlers" (vgl. Stanzel: 1955). Daher wird er haeufig als neutraler,
objektiver Beobachter angesehen. So betont Braun den
Protokollcharakter, den diese Aufzeichnungen ebenso wie Heft 2,4 und 6
trugen, und er stellt sie daher als 8. Heft den 7 Heften des ersten
Teiles zur Seite (vgl. Braun 1959: 34 und 75).
Demgegenueber muss doch auf den entscheidenden Unterschied
zwischen dem ersten und dem zweiten Teil hingewiesen werden, der darin
liegt, dass der Protokollant im Tagebuch eben derjenige ist, um den es
geht, waehrend sich Rolf distanziert zu dem Geschehen verhaelt.
Juergensen meint: "Rolf stellt seine epische Darstellung zu keiner Zeit
in Frage; er bleibt der autoritaere, allwissende Erzahler". (Juergensen
1972: 76)
Ist der Staatsanwalt wirklich ein allwissender Erzahler?
Hoechstens wohl insofern, als er bereits das Ende der Geschichte -
Julikas Tod kennt und von daher seinen Bericht zusammenfasst. Seine
Objektivitaet ist doch fraglich. Sein Verhaeltnis zu Stiller ist sicher
zwiespaeltig. Von diesem wird er im Tagebuch immer als sein Freund
bezeichnet; seine Freundschaft drueckt sich jedoch kaum in echten
Hilfeleistungen aus. Einmal besuchen er und seine Frau das Stillersche
Ehepaar im Hotel, dann vergehen anderthalb Jahre bis zu seinem ersten
Besuch in Glion. Stillers Anrufe waehrend dieser Zeit, die wohl ein
Zeichen seiner schwierigen Situation sind, sind Rolf laestig.
Vielleicht spielt in seinem Unterbewusstsein immer noch die Eifersucht
auf den frueheren Liebhaber seiner Frau eine Rolle, was ihm ja auch
einmal - bei dem gemeinsamen Spaziergang zu dritt - zu Bewusstsein
kommt: "In den uebrigens seltenen Augenblicken solcher Art wurde mir
das Vergangene doch sehr bewusst; unsere Gegenwart zu dritt bestuerzt
mich dann wie etwas Unmoegliches, zumindest Unerwartetes" (Frisch 1992:
416). Zum objektiven Berichterstatter eignet sich dieser Mann gewiss
nicht
Auch das Nachwort ist also aus einer subjektiven Perspektive
heraus erzaehlt, was man beachten muss um die Ehe Stillers mit Julika
in ihrer letzten Etappe zu beurteilen. Rolf sieht in ihm den eigentlich
Schuldigen, aber was er berichtet - Julikas mangelnde Anerkennung fuer
ihren Mann, ihr Verschweigen der bevorstehenden Operation, schliesslich
die Tatsache, dass sie allein ins Krankenhaus geht - widerlegt
eigentlich das, was er sagt. Wir wissen nicht, was in Julika vorgeht,
denn es gibt in diesem Buch keinen allwissenden Erzaehler, der ins
Innere seiner Romanfiguren sehen kann. Die durchgehende
Perspektivierung des gesamten Romans zeigt jede Figur entweder so, wie
sie sich selbst sieht, oder als Bildnis in den Augen der anderen,
niemals aber losgeloest aus ihrer zwischenmenschlichen Verflechtung.
Nicht epische Totalitaet, sondern Perspektivierung und Medialisierung
sind die Kennzeichen dieser Erzaehlhaltung.
Schlussfolgerung
Im ersten Kapitel der vorliegenden Forschungsarbeit haben wir uns
mit folgenden Themen auseinandergesetzt und sind zu den Schluessen
gekommen:
- Die zentralle Stellung in Frischs Werken nehmen Identitaetsfrage
und Bildnisproblematik ein. Die Titelgestalt vom Roman "Stiller"
will auch mit sich selbst nicht identisch sein, er fuehlt sich
als Versager und flieht nach Amerika.
- Waehrend der Untersuchung der strukturellen Besonderheiten haben
wir festgestellt, dass Frischs Einstellung zum Schreibprozess,
seine Wahl der Architektonik und Form des Romans die
strukturelle Offenheit moeglich macht. Das bedeutet, dass der
Autor dem Leser seine Meinung nicht aufzwingt und der Leser
dementsprechen ueber verschiedene Interpretationsmoeglichkeiten
verfuegt.
- Der komplizierte Aufbau des Romans widerspiegelt seine
Problematik. Man kann zwei Handlungsstraenge verfolgen, die
White- und Stillerhandlung, die am Ende zusammenfuehren, denn
die Doppelidentitaet Stiller/White wird zu einer Einheit.
- Die Form und Funktion des Tagebuches ist im Roman mit der
Erzaehlsituation eng verbunden, weil die Erzaehlsituation durch
Stillers Aufenthalt im Gefaengnis bestimmt ist. In der Analyse
wird Ich- Erzaehlsituation und ihre Besonderheiten vom
Standpunkt der Erzaehltheorie von Stanzel untersucht. Der Autor
waehlt die Ich-Erzaehlsituation, weil er innerliche Welt der
Titelgestalt aus subjektiver Sicht betrachten will. In dieser
Form wird der Leser fast automatisch ein Teil des Buches, da er
sich durch die gewählte Erzählperspektive in die Rolle Stillers
hineinversetzen muß.
II. Zusammenspiel der Realitaeten
Der komplizierte Aufbau des Romans, die von Max Frisch gewaehlte Form
des Tagebuchs und als Folge die offene Struktur des Romans haben dazu
gefuehrt, dass der Text nicht homogaen ist. Im Rahmen der fiktionalen
Wirklichkeit des Romans koennen verschiedene Schichten der inneren
Realitaet ausgesondert werden. Die Mehrschichtigkeit kommt dann zum
Ausdruck, wenn der Leser mit Perspektivierungen der Erzaehlung und
verschiedenen Ebenen der Textwirklichkeit konfrontiert wird. Das sind:
(Stillers Einreise in die Schweiz einerseits und Nachwort des Staatsanwalts
andererseits.
(Die Knobel erzaehlten Geschichten
(Parabolische Geschichten
(Traeume
Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, uns mit dem komplizierten Problem der
textwirklichkeit auseinanderzusetzen und auf verschiedene Ebenen der
Textwirklichkeit im Roman praezieser einzugehen.
1. Der Begriff der Textwirklichkeit. Fiktionalitaet und
Virtualitaet im literarischen Text
Unter der fiktionalen Wirklichkeit ist nicht die Nachahmung der
objektiven Wirklichkeit zu verstehen, sondern eine besondere Wirklichkeit,
die sich im Rahmen eines Textes realisiert und existiert. Die fiktionale
Wirklichkeit ist die innere Wirklichkeit eines fiktionalen, das heisst
eines literarischen Textes, die in diesem Text und durch diesen Text
existiert und ueber eigene Gesetzmaessigkeiten verfuegt.
Die Textwirklichkeit eines Textes stellt in sich keine Ganzheit dar,
dementsprechend kann man einen literarischen Text mit einer Konstruktion,
die aus vielen "Kaestchen" besteht, vergleichen. Paduceva bezeichnete diese
kleinen "Kaestchen" als "Fiktion zweiten Grades", oder "Fiktion in der
Fiktion" (Padu?eva 1996: 388). In der Struktur eines fiktionalen Textes
koennen Fragmente abgesondert werden, die ueber eine besondere Position im
Vergleich zur Hauptlinie des Erzaehlens verfuegen. Es handelt sich dabei um
autonome Textteile wie Traum, Tagtraum, erlebte Rede, Luege, Erzaehlung in
der Erzaehlung und aehnliche Erscheinungen, die in das Textganze
eingeflochten sind. Einzelne Textpassagen wie Rede, Wechselrede,
Landschaftsschilderungen oder Sujetereignisse weisen auf diese fiktionale
Wirklichkeit hin, sind also im Rahmen des fiktionalen Systems des Textes
verifizierbar.
"Und dann kam die Lava, langsam, aber unaufhaltsam, in der Luft
erkaltend und erstarrend, ein schwarzer Brei mit Wirbeln von weisslichem
Dampf; nur in der Nacht sah man noch die innere Glut in diesem steinernen
Brei, der naeher und naeher kam, haushoch, naeher und naeher: zehn Meter im
Tag". (Frisch, M. 1992: 47)
Anders Traeume und Luegen: "Im Fall einer erdachten Welt sind Objekte
und Situationen in der erdachten Textwelt Referenten der sprachlichen
Aeusserungen" (Paduceva 1996: 244). Diese Fragmente im Rahmen eines
fiktionalen Textes sind 'Eigentum' und 'Produkt' des Bewusstseins der
Textfiguren und somit im referenziellen System der Textwelt nicht
verifizierbar. Sie verfuegen meistens ueber einen besonderen Status und
lassen sich durch inhaltliche und sprachliche Signale aus dem Textganzen
Ñòðàíèöû: 1, 2
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